Bildung in Deutschland – Diagnosen und Perspektiven des Deutschen Lehrerverbandes

  1. Das allgemeinbildende und berufsbildende Bildungswesen in Deutschland steht vor immensen Herausforderungen, von deren Bewältigung nichts weniger als die Zukunftschancen unserer Kinder und Jugendlichen abhängen. Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass der bisherige Standortvorteil Deutschlands, über ein insgesamt gut funktionierendes Schulsystem zu verfügen, massiv gefährdet ist: zu geringe Investitionen in die Bildung, ein alarmierender Mangel an Fachkräften und Bewerbungen für Ausbildungsplätze, ein massiver Lehrkräftemangel, eine Bildungspolitik, die weniger auf Qualität, sondern mehr auf Quantität setzt, ein immer größerer Mangel an Vergleichbarkeit bei Bildungsstandards, Schulsystemen und Abschlussprüfungen zwischen den Ländern sowie ein signifikanter Rückstand beim digitalen Transformationsprozess.

1.1 Seit Jahren befindet sich das deutsche Bildungssystem im permanenten Krisen- und Ausnahmemodus, in neuerer Zeit verstärkt durch den großen Flüchtlingszustrom 2015/16, dann fortgesetzt durch die Corona-Pandemie und die Aufnahme von Hunderttausenden ukrainischen Schülerinnen und Schülern seit Februar 2022. Diese immer neuen Herausforderungen, für die die Politik nie die dafür notwendigen Ressourcen in vollem Umfang bereit gestellt hat, haben die Kernanliegen guter Bildungspolitik zu stark in den Hintergrund treten lassen: Zu kurz gekommen sind die Förderung eines begabungsgerechten Unterrichts für alle, eine kontinuierliche Steigerung der Lernerfolge, die langfristige Integration von Zugewanderten, die bestmögliche Passung von Bildungs- und Beschäftigungssystem, eine Konzentration auf den Kernbereich des Unterrichtens und ein Fokus auf pädagogisch sinnvolle Digitalisierungsprozesse. Wir müssen deutsche Schulen und das deutsche Bildungssystem krisensicher und zukunftsfest Dazu brauchen wir eine bessere Unterrichtsversorgung, mehr Bildungsinvestitionen, eine Reform der KMK, mehr Handlungs- und Entscheidungsspielräume für Einzelschulen und eine langfristige Orientierung an Qualitätskriterien. Zu dieser Zukunftsfähigkeit und Krisenresilienz gehört in einer Welt der permanenten Krisen, der zunehmenden Polarisierung und Filterblasenbildung in sozialen Netzwerken unbedingt die Demokratie- und Werterziehung. Schule kann dabei aber nur erfolgreich sein in Zusammenwirkung mit Familien und mit Unterstützung gesellschaftlicher Institutionen.

1.2 Neuere Leistungsvergleiche wie die aktuellen Vergleichsstudien zeigen, dass es deutliche Leistungseinbußen insbesondere im Grundschulbereich gibt. Ein immer größerer Teil von Kindern erwirbt nicht einmal mehr die für eine weitere erfolgreiche Schullaufbahn notwendigen basalen Grundkenntnisse bei Lesefähigkeit, Rechtschreibung und Rechnen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass immer mehr Kinder bei Schulbeginn eigentlich nicht schulfähig sind und dem Unterricht – beispielsweise mangels deutscher Sprachkenntnisse – gar nicht folgen können. Um dem gegenzusteuern, müssen wir in Deutschland die Frühförderung umfassend intensivieren und gleichzeitig wieder mehr auf eine klare Ergebnis- und Leistungsorientierung an verbindlichen Kriteriena. beim Übergang auf die weiterführenden Schulen achten.

1.3 Das Bildungswesen in Deutschland ist sowohl auf Bundesebene als auch in den meisten Bundesländern chronisch unterfinanziert. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland beim Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt unterdurchschnittlich ab. Gerade auch im Interesse des Erhalts eines differenzierten Bildungsangebots und einer verbesserten individuellen Förderung muss in die Bildung pro Schüler mehr Geld investiert werden. Im Zuge der finanziellen Belastung des Bundeshaushalts und der Länderhaushalte durch steigende Energiekosten, Inflationsanstieg und höhere Militär- und Sozialausgaben droht in verstärktem Maße die Vernachlässigung der Bildung. Der DL setzt sich mit Vehemenz dafür ein, dass dies nicht passiert und die Bildungsfinanzierung langfristig auf ein festes Fundament gestellt wird.

1.4 Insbesondere der sich dramatisch verschärfende, andauernde Lehrkräftemangel gefährdet massiv die Bildungsqualität und Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Immer mehr Stellen können überhaupt nicht mehr besetzt werden, gleichzeitig nimmt der Anteil der Quereinsteiger immer mehr zu, von denen sehr viele ohne ausreichende pädagogische, didaktische und fachliche Nachqualifizierung im Unterricht eingesetzt werden. Der Lehrkräftemangel ist derzeit die Hauptbedrohung für die Zukunftsfähigkeit unseres Schulsystems. Die Ursachen des Lehrermangels sind vielfältig, sie reichen vom unterschätzten Geburtenanstieg, dem massiven Abbau von Lehramtsstudienplätzen sowie dem unerwartet hohem Zustrom von Flüchtlingskindern bis hin zur systematischen Verschlechterung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in Schule und Unterricht, wenn zu viel Zeit für unterrichtsferne Tätigkeiten aufgewendet werden muss. Dabei ist auch auf das Versäumnis der Landesregierungen und der Schulministerien hinzuweisen, in den letzten Jahrzehnten keine vorausschauende Personalpolitik für die Schulen betrieben zu haben. Der DL setzt langfristig auf ein Konzept, wonach künftig in Nichtmangelzeiten eine Lehrkräftereserve aufgebaut sowie auf eine Steigerung der Attraktivität des Lehramts durch Senkung der Stundendeputate, Reduzierung der Verwaltungstätigkeiten, bessere Aufstiegschancen und durch Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams mit anderen Professionen Wert gelegt wird.

Auch die Gewinnung und Anwerbung von Quer- und Seiteneinsteigern kann ein Beitrag zur Bekämpfung des dramatisch hohen Lehrkräftemangels sein. Allerdings muss dabei im Interesse der Kinder und Jugendlichen auf eine anspruchsvolle, den Standards der grundständigen Lehrerbildung genügenden universitären und pädagogischen Nachqualifizierung größter Wert gelegt werden.

1.5 Die Bildungspolitik und die Bildungsdebatte in Deutschland sind vor allem auf das allgemeinbildende Schulwesen und auf das Hochschulwesen fixiert. Der für die Berufsbiografie seiner Schülerinnen und Schüler sowie für den Erfolg der deutschen Wirtschaft wie auch für das deutsche Sozialsystem bedeutende Sektor der beruflichen Bildung bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung völlig unterbewertet. Dabei fährt Deutschland – wie Österreich und die Schweiz – ausgesprochen gut mit seinen Strukturen beruflicher Bildung, was sich u.a. in der im internationalen Vergleich sehr geringen Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland zeigt. Auch in Zukunft wird ein großer Teil der jungen Menschen über die berufliche Bildung den Einstieg in einen Beruf finden und dort über ein ausdifferenziertes (und noch weiter auszubauendes) Fort- und Weiterbildungssystem berufliche Karrieren erreichen, die mit denen von Absolventinnen und Absolventen der Hochschulen und Universitäten vergleichbar sind. Diese jungen Menschen und deren Qualifikationen müssen stärker in den Fokus der politischen und der bildungswissenschaftlichen Debatten gerückt werden, ihre Wünsche und Bedürfnisse müssen auch im Angebot beruflicher Bildung Berücksichtigung finden. Flankierend dazu ist das bereits in der Sekundarstufe I einsetzende und breit angelegte System der Berufsorientierung weiter auszubauen, das z. B. auch durch neue Formen der Lernortkooperation erweitert und damit weiter professionalisiert werden muss.

1.6 Durch die Erfahrungen der Coronakrise ist deutlicher denn je geworden, wie wichtig der Präsenzunterricht für den Lernerfolg, die Bildungsgerechtigkeit und den Erziehungsprozess ist, wir sehen aber auch, dass das deutsche Bildungssystem beim Digitalisierungsprozess einen erheblichen Rückstand im internationalen Vergleich aufweist. Auch wenn Bildungsstudien zeigen, dass mehr Computer und mehr digitaler Medieneinsatz nicht automatisch zu mehr Lernerfolg führen, müssen unsere Schulen unsere Jugendlichen bestmöglich auf eine Welt vorbereiten, die immer stärker von Digitalisierung geprägt sein wird. Dabei lautet unsere Maxime, dass die Technik unter dem Primat der Pädagogik stehen muss. Neben der Implementation von digitalen Medien in den Fachunterricht, dort, wo ein Mehrwert erzielt werden kann, brauchen wir eine umfassende Medienerziehung, die Kinder dazu befähigt, souverän, kritisch und reflektiert mit modernen Medien umzugehen.

1.7 Schule als eine der ganz wenigen Institutionen, die alle soziale Schichten und Milieus zusammenführt und einen klaren staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag hat, leistet einen wesentlichen Beitrag zur Festigung der Demokratie, zur Achtung der Menschenrechte, zur gegenseitigen Toleranz und zu einem sorgsamen, humanen Umgang miteinander. Der politischen Bildung an allen Schulen und Schularten muss ein höherer Stellenwert eingeräumt werden. Dies bedarf einer entsprechenden Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Lehrkräfte.

1.8 Eine erfolgreiche Integrationspolitik ist nur möglich, wenn dafür an den Schulen und im vorschulischen Bereich die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt und die richtigen Konzepte umgesetzt werden. Es sind größere Anstrengungen erforderlich, um sicherzustellen, dass Kinder bei der Einschulung in der Lage sind, dem Unterricht auch sprachlich zu folgen. Dazu fordern wir verpflichtende vorschulische Sprachstandserhebungen und bei festgestellten Sprachdefiziten eine verpflichtende vorschulische Förderung. Dabei setzen wir in Erweiterung traditioneller Sprachförderprogramme auf eine alltagsintegrierte Sprachbildung, die durch Impulsförderung den Erwerb eines Grundwortschatzes bestmöglich unterstützt und garantiert. Außerdem sollte die Politik Anstrengungen unternehmen, die extreme soziale und ethnische Segregation insbesondere in Metropolregionen abzubauen. Etwa durch eine veränderte Städtebau- und Wohnungspolitik, durch einen flexibleren Umgang mit Schulsprengeln und eine angemessene Ausstattung aller Schulen soll der Entstehung und Verfestigung von Brennpunktschulen entgegengewirkt werden.

 

  1. Ein Land, das kulturell, wirtschaftlich und politisch bestehen will, muss in Zeiten fortschreitender Globalisierung ein differenziertes und qualitativ anspruchsvolles Bildungswesen vorhalten. Der Bedarf an Pluralität und an unterschiedlichen Profilen unterschiedlicher Bildungseinrichtungen ergibt sich aus der großen Bandbreite der Begabungen und Neigungen junger Menschen sowie aus der Heterogenität der Qualifikationsanforderungen und Lebensentwürfe.

2.1 Der DL vertritt einen Bildungsbegriff, der nicht vorrangig an wirtschaftlichen Erwägungen ausgerichtet ist. Natürlich ist Bildung auch wichtig, um einem Land qualifizierte Arbeitskräfte zuzuführen und die Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten zu sichern. Bildung hat aber für uns eine umfassende Bedeutung. Erstens ermöglichen gute Bildung und die begabungsgerechte Förderung seiner Fähigkeiten jedem Menschen die Möglichkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und so zu führen, dass er seine Stärken und Möglichkeiten weitgehend nutzen und ausschöpfen kann (Selbstverwirklichung). Zweitens hat gute Bildung den mündigen Bürger, die mündige Bürgerin im Blick. Unser Ziel ist es, junge Menschen dazu zu befähigen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Verantwortung zu übernehmen. Und drittens sichert gute Bildung einer Gesellschaft auch Wohlstand und die Wirtschaftskraft.

2.2 Mehr Bildungschancen und eine größere Chancengerechtigkeit erreicht man nicht durch Nivellierung von Ansprüchen bzw. durch eine inflationäre Verteilung von Bildungszertifikaten und Abschlüssen bei gleichzeitiger Senkung von Qualitätsstandards. Das würde gerade junge Menschen aus schwierigeren Milieus in ihren eingeschränkten Möglichkeiten festbinden. Selbst ein hochindividualisierender Unterricht zementiert Unterschiede: Je mehr Schüler ihren individuellen Möglichkeiten entsprechend gefördert werden, desto mehr schlägt die individuelle Begabung durch. In einem guten Bildungssystem geht es folglich nicht um Ergebnisgleichheit, sondern um gerechte Startchancen und die Förderung der verschiedenen Begabungen und Neigungen.

2.3 Die Behauptung, weltweit habe sich die Einheits- und Gesamtschule als überlegen durchgesetzt, ist völlig unzutreffend. Für Deutschland gilt: Gesamtschule in Deutschland hat trotz privilegierter Personal- und Sachausstattung die in sie einst gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Der DL erkennt Gesamtschulen als eine Angebotsschulart in einem gegliederten Schulwesen durchaus an, er widersetzt sich aber vehement allen Bestrebungen, das vielgliedrige Schulangebot durch eine Einheitsschule, heißt sie nun Gesamt- oder Gemeinschaftsschule, zu ersetzen. Mit Sorge sieht der DL, dass es in vielen Bundesländern, in denen Hauptschulen aufgelöst oder mit Realschulen verschmolzen worden sind, zu einer problematischen Heterogenisierung der Schülerschaft gekommen ist, ohne dass man deren unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht wird. Durch die Abschaffung von Hauptschulen wurde eben der Hauptschüler oder die Hauptschülerin selbst nicht abgeschafft. Insbesondere die frühzeitige und durchgängige Berufsorientierung, die eine besondere Stärke der Hauptschule war und ist, bleibt in anderen Schulformen häufig auf der Strecke. Folge ist, dass jeweils ein beachtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler überfordert und ein anderer unterfordert bleibt. Der DL fordert deshalb eine stärkere, auf die unterschiedlichen Abschlüsse bezogene Leistungsdifferenzierung in der Sekundarstufe 1 und den Erhalt bzw. die Wiedergründung von Realschulen.

Auch das sogenannte „längere gemeinsame Lernen“, das von seinen Befürwortern als Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit angesehen wird, hat die darin gesetzten Erwartungen in keiner Weise erfüllt. Bundesländer mit sechsjähriger Grundschule wie Berlin und Brandenburg sind nicht gerechter und leistungsstärker, sondern in aller Regel ungerechter und leistungsschwächer als der Durchschnitt der Bundesländer.

2.4 Deutschland braucht keine profillosen, vereinheitlichten Schulformen, sondern möglichst vielgliedrig differenzierte und profilierte allgemeinbildende und berufsbildende Schulformen. Ein solches Schulwesen muss noch mehr zur Chiffre für begabungsgerechte individuelle Förderung Letzteres ist möglich, wenn man wie oben ausgeführt den Schulen über eine volle Lehrerversorgung hinaus einen deutlichen Zuschlag an Lehrerstunden gewährt. Mit diesem Zuschlag kann man spezifische Förderkurse nicht nur für leistungsschwächere, sondern auch für besonders begabte Schülerinnen und Schüler einrichten. Individualisierung darf freilich nicht zu einer Auflösung der je eigenen Profile unterschiedlicher Schulformen und Bildungsgänge führen.

2.5 Die Durchlässigkeit des Bildungswesens ist ein hoher Wert. Es ist allerdings zu unterscheiden zwischen horizontaler und vertikaler Durchlässigkeit. Die horizontale Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Bildungseinrichtungen in einem differenzierten Schulwesen mit sich deutlich unterscheidenden Schulartprofilen kann nur eine eingeschränkte sein. Wichtiger ist die vertikale Durchlässigkeit. Das heißt: Auf jeden Bildungsabschluss muss ein Anschluss an weiterführende Bildung möglich sein. Dies zeigt beispielhaft das schulische Berufsbildungssystem. Heute erwirbt über ein Drittel der Jugendlichen nach dem Hauptschulabschluss oder ersten allgemeinbildenden Schulabschluss (ESA) noch den Realschulabschluss oder mittleren Schulabschluss (MSA) und davon fast die Hälfte das Abitur. Das ist ein überzeugender Beweis, dass unser Bildungssystem sozialen Aufstieg nicht nur verspricht, sondern auch real ermöglicht.

2.6 Vielgliedrigkeit, Differenzierung und Profilbildung muss sich in den curricularen Inhalten Eine bloße Orientierung an inhaltlich nicht näher beschriebenen Kompetenzen provoziert ein Verwischen der Profile. Konkrete Inhalte sind Voraussetzung für das Entstehen kognitiver Strukturen, für den Aufbau einer intelligent vernetzten Wissensbasis und für die Förderung fachübergreifenden Denkens, für mündiges Urteilen, für anspruchsvolle Kommunikation und für ideelle Orientierung. Die sogenannte Entrümpelungsdebatte ist ein Irrweg. Es ist ein Irrtum, dass in Zeiten von Internet, Suchmaschinen und KI-Tools wie ChatGPT die Vermittlung von Kenntnissen, Fakten und Wissen nicht mehr so wichtig sei. Nur auf der Basis von vertiefter Allgemeinbildung ist angesichts der unübersehbaren Informationsflut eine Orientierung, Bewertung und kritische Reflexion möglich. Grundlegende Bildungsinhalte in fast allen Schulfächern kennen keine Halbwertszeit. Auch KI wird den Prozess der eigenständigen Bildungsaneignung nicht beliebig ersetzen und abkürzen können.

2.7 Ein profiliertes, vielgliedriges und leistungsförderndes Schulwesen erfordert auch eine nach Schularten und Schulprofilen differenzierte Lehrkräftebildung. Jede Nivellierung, Flexibilisierung und Vereinheitlichung von Lehramtsabschlüssen, etwa durch ein gemeinsames Grundstudium, verwischt die Schulartprofile und beraubt letztendlich die einzelnen Lehrämter ihrer spezifischen und besonderen Qualifikationen, also die Vorbereitung auf Ausbildungsreife und Beruf im Grund-, Haupt- und Mittel- bzw. Realschulbereich oder Studien- und Berufsorientierung und die Hinführung zur allgemeinen Studierfähigkeit im gymnasialen Lehramt. Außerdem fordert der DL die Wiederherstellung eines zweijährigen Referendariats in allen Bundesländern.

2.8 Der DL bekennt sich zum Bildungsföderalismus, wie er durch das Bundesstaatsprinzip in Art. 20 GG verankert und durch Art. 79,3 mit einer „Ewigkeitsklausel“ versehen ist. Bei aller notwendigen Differenzierung der Bildungslandschaft und der Bildungsabschlüsse müssen die Ansprüche und die Bildungsabschlüsse im Sinne der Gleichbehandlung vor dem Gesetz (GG Artikel 3) und im Sinne „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (GG Artikel 72) sowie der Gewährleistung innerstaatlicher Mobilität vergleichbar sein. Es ist vorrangig die Aufgabe der Selbstkoordinierungsgremien der deutschen Länder, insbesondere der MPK und der KMK, diese Vergleichbarkeit unter Wahrung der Grundsätze des kooperativen und kompetitiven Wettbewerbs-Föderalismus auf anspruchsvollem Niveau zu gewährleisten. Dazu bedarf es gerade im allgemeinbildenden Bereich keiner Verfassungsänderung und zusätzlicher Kompetenzen des Bundes. Bildungszentralismus würde hier eher nach unten nivellierend wirken. Allerdings müssen die 16 deutschen Länder mehr als bislang auf bildungspolitische Eitelkeiten verzichten und die Kultusministerkonferenz sollte ihrer Koordinierungsaufgabe auch wirklich nachkommen. Dazu bedarf es aus Sicht des DL einer umfassenden KMK-Reform. Hilfreich wäre überdies der Abschluss eines Bildungs-Staatsvertrags zwischen den Bundesländern, in dem die gemeinsame Grundlagen und Standards eindeutig festgelegt werden.

Eines erheblich höheren Maßes an Koordinierung bedarf freilich die berufliche Bildung. Hier sind die Zuständigkeiten zu sehr atomisiert – auf mehrere Bundesministerien, auf Landesministerien und auf Kammern.

 

  1. Ein Bildungswesen muss gerecht sein. Gerecht ist es aber nur, wenn es Chancen zur eigenverantwortlichen Nutzung der Bildungsangebote und zur individuellen Leistungsentfaltung bietet. „Bildungsgerechtigkeit“ darf nicht darin bestehen, dass Strukturen, Inhalte und Anforderungen egalisiert werden. Ein gerechtes Bildungswesen kann nur ein Bildungswesen sein, das einerseits am Leistungsprinzip orientiert ist, aber gleichzeitig im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür sorgt, dass für alle Kinder vergleichbare Startchancen bestehen.

3.1 Bildung ist ohne Anstrengung sowie ohne die Investition von Zeit und Energie nicht zu haben. Die Vorstellung, Bildung ließe sich einfach technokratisch-mechanisch vermitteln, geht von einem falschen Bildungsverständnis aus. Erfolgreiches Lernen setzt auch eine eigenständige, auf Anstrengung beruhende Aneignung von Bildung durch den Lernenden voraus. Nur wenn Lehrende und Lernende aktiv zusammenwirken, kann Bildung erfolgreich sein. Auch die Vorstellung, Unterricht müsse vorrangig so gestaltet werden, dass das Lernen stets „Spaß“ macht, ist zu kurz gegriffen. Fördern und Fordern gehören zusammen. Irreführend ist auch die Behauptung, viele Heranwachsende seien durch die Schule überfordert. Dies mag zutreffen, wenn Kinder in die für sie falsche Schullaufbahn gedrängt werden. Selbstverständlich ist aber ebenso eine Drill-Pädagogik asiatischer Ausprägung der falsche Weg. Kinder und Jugendliche wollen aber auch gefordert werden. Nur wenn man ihnen im positiven Sinne auch etwas zutraut und abverlangt, werden sich größere Lernerfolge einstellen.

3.2 Wer das Leistungsprinzip in den Bildungseinrichtungen untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Vermögensverhältnisse, familiäre Herkunft, Gesinnung oder Geschlecht Allokationskriterien. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung in Verbindung mit Chancengerechtigkeit vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Dies ist die größte und beste Chance zur Emanzipation, zu sozialem Aufstieg und zu umfassender politischer und kultureller Teilhabe für jeden Einzelnen. Durch eigene Leistung errungene Bildung ist der Schlüssel für Freiheit und Selbstverwirklichung.

3.3 Jeder sollte seines Glückes Schmied sein können. Mit Ellenbogengesellschaft oder sozialer Kälte hat das nichts zu tun. Vielmehr ist auch der Sozialstaat zugunsten Benachteiligter, Kranker und Alter nur realisierbar mit der millionenfachen Leistung und Anstrengung der Leistungsfähigen. Sozialstaatlichkeit und Leistungsprinzip gehören in diesem Sinne untrennbar zusammen.

3.4 Beim Start in die Bildungslaufbahn sollten alle gleiche Chancen haben, gleiche Zielchancen kann es nicht geben. Ziel aller öffentlichen Bildungsanstrengungen muss die Integration aller Heranwachsenden in Gesellschaft und Gemeinwesen sein. Dazu brauchen wir einen verstärkten Ausbau und neue alltagsintegrierte Modelle einer verpflichtenden vorschulischen Förderung insbesondere für Kinder, die ansonsten nicht schulfähig wären und dem Unterricht nicht folgen können. Zugleich gilt aber: Chancen sind keine Vollkasko-Garantien, zu Erfolgsaussichten können sie erst durch eigene Anstrengung werden.

3.5 Entgegen vielerlei Behauptungen ist das Bildungswesen in Deutschland sozial nicht ungerechter als das Bildungswesen vergleichbarer Nationen, wie internationale Vergleichsstudien zeigen. Die zahlreichen Schul- und Hochschulgründungen der vergangenen Jahrzehnte kamen gerade bildungsfernen Schichten zugute. Zum Beispiel gibt es in Deutschland rund 50 verschiedene Wege zu einer Studienberechtigung. Der Anteil der Studierenden, die zuvor kein Gymnasium besuchten, ist immer größer geworden und hat in manchen deutschen Ländern die 50-Prozent-Marke überschritten. Nutznießer dieser Entwicklung sind gerade auch Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern. Trotzdem befürwortet der DL verstärkte Anstrengungen, den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg mehr zu entkoppeln. Da die Möglichkeiten und Wirkungen staatlicher Interventionen in diesem Bereich aber sehr begrenzt sind, wird es dabei auch darauf ankommen, die Eltern aus sozial benachteiligten Milieus hierbei stärker einzubeziehen und ihnen den immensen Wert von guter Bildung für ihre Kinder zu verdeutlichen.

3.6 Es ist ein sozialpolitisch gebotenes, dem Prinzip der Subsidiarität geschuldetes Ziel, das Bildungsangebot für sozial schwächere Kinder zu verbessern. Um die Zahl der sog. Bildungsverlierer weiter zu reduzieren und um die Barriere der Selbstselektion überwinden zu helfen, muss es noch mehr als bisher gelingen, „bildungsferne“ Schichten zum Besuch weiterführender Bildungseinrichtungen zu motivieren. Eine besondere Aufgabe kommt dabei der vorschulischen Erziehung und der Bildungsberatung zu.

3.7 Deutschland braucht zudem ein Bildungssystem, das auch besonders leistungsfähige und leistungsstarke Kinder und Jugendliche umfassend fördert. Wer individuelle Förderung will, muss auch Begabten und Hochbegabten spezifische Angebote machen. Dabei geht es nicht allein um die Förderung von Spitzenleistungen, sondern auch darum, dass Leistungseliten auch eine besondere gesellschaftliche Verantwortung und Verpflichtung für das Gemeinwohl haben. Vor einem solchen Hintergrund ist selbst Ungleichheit gerecht – nämlich dann, wenn Elite allen nützt, das heißt, wenn das Handeln von Eliten zu einem gesamtgesellschaftlichen Mehrwert führt. Wir brauchen ein Verständnis von Leistung, bei dem neben dem Karrieregedanken der Gedanke der gesellschaftlichen Verantwortung und des Respekts eine maßgebliche Rolle spielt.

3.8 Der DL bekennt sich zum Gedanken der Inklusion, wie er auch in der UN-Behindertenkonvention artikuliert worden ist. Dabei geht es in erster Linie darum, allen Kindern einen Zugang zu Bildung zu eröffnen. Exklusion und Inklusion machen sich für uns nicht am Besuch von Regel- oder Förderschulen fest, sondern daran, an welcher Schulart das jeweilige Kind am besten gefördert und inkludiert werden kann. Der DL ist für ein umfassendes Elternwahlrecht in dieser Frage und für den Erhalt des Förderschulsystems in Deutschland. Dazu gehört auch der Erhalt der hochqualifizierten und hochdifferenzierten Lehrkräfteausbildung im Förderschulbereich.

  1. Die duale Ausbildung als Standortvorteil des deutschen Bildungswesens

4.1 Viele der deutschen Schul- und Berufsabschlüsse unterhalb der formal-akademischen Schwelle sind vergleichbar mit Hochschulabschlüssen andernorts. Daher sind die Akademiker-Quoten international nicht vergleichbar.

4.2 Es gibt keine Korrelation zwischen der Quote der Studierberechtigten und wirtschaftlicher Prosperität. Ein wichtiges bildungspolitisches Kriterium wird ebenfalls häufig übersehen, nämlich das Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit. Hier haben viele Länder mit Gesamtschulsystemen eine Quote von 20 Prozent und mehr. In Ländern mit gegliederten Schulsystemen und dualer Berufsbildung, nämlich in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, sind es deutlich weniger. All dies ist vor allem Verdienst des dualen Systems der beruflichen Bildung, zu dem sich der DL vorbehaltlos bekennt.

4.3 Auch die angebliche soziale Durchlässigkeit des Bildungswesens anderer Staaten ist oft ein statistisches Artefakt: Wenn in Finnland die Tochter eines Industriearbeiters Krankenschwester wird, dann gilt sie als Paradebeispiel für die soziale Durchlässigkeit des dortigen Bildungswesens. Wenn in Deutschland die Tochter eines Facharbeiters Krankenschwester wird, gilt dies als Beispiel für die mangelnde soziale Durchlässigkeit unseres Bildungswesens.

  1. Plädoyer für wissenschaftsbasierte, auf hohe Qualität und Konsens ausgerichtete Reformen statt sprunghaftem Reformaktionismus

Ziele, Inhalte und Strukturen eines Bildungswesens müssen einer ständigen Überprüfung unterworfen werden. Reformen und Veränderungen sind aber kein Wert an sich. Vielmehr gilt: Bewährtes ist zu bewahren und behutsam weiterzuentwickeln. Kollateralschäden von verfehlten Bildungsreformen zeigen sich oft erst nach vielen Jahren und Jahrzehnten. Deshalb plädieren wir dafür, notwendigen Reformbedarf zunächst auf der Grundlage überprüfbarer wissenschaftsbasierter Expertisen und Evaluationen zu definieren, um dann auf der Grundlage eines gesellschaftlich breiten Diskussionsprozesses alle Beteiligten einzubeziehen und mitzunehmen.

Die Zeit eines kurzatmigen, oft aus ideologischen Gründen betriebenen Reformaktionismus muss endgültig vorbei sein.

Juni 2023 – Präsidium und Bundeshauptausschuss Deutscher Lehrerverband

als PDF zum Download: DL-Grundsatzpapier_2023 

Schulnoten, Abiturzeugnisse und Hochschulexamina – zwischen Noteninflation und mangelnder Vergleichbarkeit

Heinz-Peter Meidinger

Noten haben bei allem Bemühen um Objektivität immer auch eine subjektive Komponente, – diese Erkenntnis ist heute unbestritten und wohl so alt wie die Geschichte schulischer und universitärer Leistungsmessung insgesamt.

1970 erschien das Buch „Die ungerechte Aufsatzzensur“ des Kieler Pädagogikprofessors Gottfried Schröter, in dem dieser über 11 000 Zensuren für rund 600 verschiedene Deutschaufsätze von Lehrkräften und Didaktikprofessoren einsammelte und feststellen musste, dass es keinen einzigen Aufsatz gab, bei dem alle jeweils beteiligten 12 bis 18 Lehrer zum gleichen Notenurteil kamen. (Gottfried Schröter: Die ungerechte Aufsatzzensur. Bochum 1970; vgl. auch: „Eins gleich sechs“ Spiegel 44/1970; S. 114 – 117) In der Nachfolge der Studentenrevolte führte dies seinerzeit zu hitzigen Diskussionen in Lehrer- und Hochschulseminaren über die Ungerechtigkeit von Notenurteilen und das Versagen schulischer Leistungsbewertung generell, obwohl der Verfasser selbst die Noten nur vergleichbarer machen und nicht abschaffen wollte.

Aus der Schulforschung wissen wir, dass Noten immer abhängig von einer Reihe von Variablen sind, also beispielsweise von den Anforderungen, der durchschnittlichen Leistungsstärke der Referenzgruppe, aber auch von subjektiven Annahmen der Prüfer.

Die inzwischen abgelöste Kultusministerin von Schleswig-Holstein, Waltraud Wende, blieb so auch im Kreise ihrer Amtskollegen isoliert, als sie vor zwei Jahren ankündigte, in Schleswig-Holstein in der Grundschule auf Ziffernnoten generell zu verzichten, weil Noten ungerecht, unfair und oft Glücksache seien. („Brauchen Grundschüler Noten?“ In ZEIT, 15/2014 vom 3.4.2014).

Dass die Berechtigung von Notenvergaben heute weniger als noch in den 70er-Jahren grundsätzlich in Frage gestellt wird, hängt sicher auch damit zusammen, dass alle Versuche, alternative Bewertungssysteme zu entwickeln, z.B. Verbalbeurteilungen, Portfolios oder Kompetenzbeschreibungen, sich in der schulischen und gesellschaftlichen Praxis als nicht so aussagekräftig und praktikabel erwiesen haben wie die Vergabe von Ziffernnoten.

Wenn heute Noten wieder stärker in den Fokus schul- und bildungspolitischer Debatten rücken, dann sind dafür zwei andere Entwicklungen und Beobachtungen ursächlich.

Da geht es zum einen um das Phänomen der so genannten Noteninflation und zum anderen um die Frage, inwieweit Noten, insbesondere Abitur- und Examensnoten in Zeiten des Bildungsföderalismus und der Hochschulautonomie miteinander noch vergleichbar sind.

Noteninflation: Bessere Noten trotz stagnierender Leistungen

Nach gängiger Auffassung bezeichnet Noteninflation die Beobachtung, dass Prüflinge für die gleiche Leistung in späteren Jahren bessere Zensuren erhalten als in früheren Jahren. Thomas Gaens macht auf die Konsequenzen aufmerksam: „Werden die vergebenen Noten immer besser, obwohl die Leistungen von Studierenden konstant bleiben, wird damit das Prinzip der Vergleichbarkeit von Noten sowohl im Querschnitt als auch im Zeitverlauf ausgehebelt. Absolventen mit guten Leistungen erhalten weiterhin gute Noten, solche mit schlechten Leistungen dann ebenfalls, womit eine Differenzierung zwischen ihnen erschwert wird.“

(Thomas Gaens: Noteninflation an deutschen Hochschulen – Werden die Examensnoten überall immer besser? In: Beiträge zur Hochschulforschung 37, Jahrgang 4/2015, S. 8 – 35).

Diese Definition macht schon von vorneherein die grundsätzlichen methodischen Schwierigkeiten deutlich, sich mit diesem Sachverhalt argumentativ differenziert auseinanderzusetzen. Es reicht nämlich nicht allein der statistische Nachweis, dass die Noten an Hochschulen und Schulen besser geworden sind, sondern es muss auch geprüft werden, ob im Falle von statistisch signifikanten Trends zu besseren Noten über einen größeren Zeitraum nicht auch entsprechende Leistungsverbesserungen zugrunde liegen. Wäre dies der Fall, läge keine Noteninflation vor.

Während in Deutschland diese Diskussion um eine Noteninflation erst seit dem Jahre 2003 mit dem ersten entsprechenden Bericht des Wissenschaftsrats und den beiden Folgestudien von 2007 und 2014 mit Vehemenz eingesetzt hat, (Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates: Prüfungsnoten an Hochschulen 1996, 1998 und 2000 nach ausgewählten Studienbereichen und Studienfächern – Arbeitsbericht Drs. 5526-03, Köln 2003. Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates: Prüfungsnoten im Prüfungsjahr 2005 an Universitäten (einschließlich KH, PH, TH) sowie an Fachhochschulen einschließlich Verwaltungsfach-hochschulen nach ausgewählten Studienbereichen und Studienfächern – Arbeitsbericht Drs. 7769-07, Köln 2007. Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates: Prüfungsnoten an Hochschulen im Prüfungsjahr 2010. Arbeitsbericht mit einem Wissenschaftspolitischen Kommentar des Wissenschaftsrates. Drs. 2627-12, Hamburg 2012) ist die Debatte um die „Grade inflation“ in angelsächsischen Ländern, insbesondere den Vereinigten Staaten, wesentlich älter,- sie reicht in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurück (vgl. z.B. Prather, James E. u.a.: A Longitudinal Study of Grades in 144 Undergraduate Courses. In: Research in Higher Education. Vol.10-1, S. 11-24). Ende 2001 schaffte es der „Grade-Inflation-Skandal“ in Harvard sogar auf die Titelseiten der US-Medien. Der neu gewählte Harvard-Präsident Lawrence Summers ließ damals eine fakultätsübergreifende Kommission einen Maßnahmenkatalog erarbeiten, um der Bestnotenschwemme in Harvard entgegenzuwirken. Nach einer Studie der American Academy of Arts & Sciences beendeten damals 91 Prozent der „Senior Graduates“ in Harvard ihre Ausbildung mit Auszeichnung, in vergleichbaren Top-Unis wie Yale oder Princeton aber lediglich 40 bis 50 Prozent. (vgl. SPIEGEL vom 21.2.2002).

Entwicklung reicht bis in die 50er-Jahre zurück

Auch wenn die Statistiken des Wissenschaftsrates erst das Thema „Noteninflation“ in das öffentliche Bewusstsein in Deutschland rückten, gab es 1987 bereits eine große Vorläuferstudie von Josef Hitpass und Jürgen Trosien, deren erster Messpunkt bis in das Jahr 1953 zurückreicht. (Hitpass, Josef / Trosien, Jürgen: Leistungsbeurteilung in Hochschulabschlussprüfungen innerhalb von drei Jahrzehnten – Wandel von Prüfungsergebnis und Prüfungserlebnis an deutschen Hochschulen. Bad Honnef 1987). Sie analysierten Daten von sechs Diplomfächern sowie fächerübergreifend zusammengefasste Lehramtsprüfungen zu vier verschiedenen Messzeitpunkten, nämlich 1953, 1963, 1973 und 1983. Bei Zweidrittel der Fächer ließ sich eine signifikante Verbesserung über den gesamten Messzeitraum feststellen, lediglich im Fach Physik aber eine kontinuierliche über alle Erhebungszeitpunkte.

Tatsache ist also, dass die Tendenz zu besseren Noten lange vor den Erhebungen des Wissenschaftsrats eingesetzt hat. Vor allem dessen letzte Studie von 2012 hat nochmals vor Augen geführt, dass sich die Inflation guter Noten weiter fortgesetzt hat. Während im Jahr 2000 durchschnittlich 70 Prozent eines Abschlussjahrgangs eine gute oder sehr gute Note erhielten, waren es 10 Jahre später bereits über 80 Prozent. Bezieht man noch den durch die Hitpass-Untersuchung abgedeckten Zeiträume mit ein, ergibt sich tatsächlich eine eindrucksvolle Notenverbesserung in der Mehrzahl der erfassten Studiengänge bzw. von deren Abschlussprüfungen, die allerdings erst so richtig ab Mitte der 60er-Jahre einsetzt, – etwa in Chemie eine halbe Note seit 1960, in Deutsch mit Abschluss Lehramt sogar mehr als eine ganze Note seit 1963. Von 1950 bis 1966 hatten sich die Durchschnittsnoten noch eher verschlechtert (vgl. Abbildungen 4 und 5 bei Gaens, S. 15f). Insbesondere in Biologie (1,4 in 2010) und Psychologie (1,3 in 2010) stellt sich das Notenniveau inzwischen so dar, dass die Leistungsdifferenzierung in Folge der „grade compression“ massiv gefährdet ist. Gleichzeitig gibt es aber auch Studiengänge und Fachbereiche, die sich dieser Noteninflation weitgehend entzogen haben, dazu zählen insbesondere die juristischen Staatsprüfungen, die Magisterstudiengänge in Soziologie und Germanistik sowie das Fach Maschinenbau. Während 2010 im Diplomstudiengang Biologie 98 Prozent der Uniabsolventen mit einer Eins oder Zwei abschlossen, waren dies bei der ersten juristischen Staatsprüfung nur 7 Prozent.

Allerdings darf der Blick auf die Durchschnittsergebnisse nicht ausblenden, dass die Dokumentation des Wissenschaftsrats nicht nur krasse Notenniveauunterschiede zwischen einzelnen Studienfächern, sondern auch enorme Differenzen zwischen einzelnen Universitäten in den gleichen Studienfächern aufdeckt. In BWL lag etwa der Notenschnitt der Bachelorstudenten 2010 bei 2,3 – dabei reichte das Spektrum allerdings von 1,7 an der Frankfurt School, einer privaten Hochschule, bis zur TU Clausthal mit 2,8. Die Zahlen legen auch nahe, dass die Sportstudenten in Hamburg mit Abschlussnote 1,4 leistungsstärker (sportlicher?) sind als ihr Kommilitonen in Bochum, die es lediglich auf eine 2,3 brachten.

Einflüsse des sozialen Kontextes auf Hochschulprüfungen

Angesichts dieser extrem großen Noten-Spannweite in Bezug auf Fächer und Universitäten stellt sich die Frage der Vergleichbarkeit von Examensnoten mit umso größerem Nachdruck. Volker Müller-Benedict hat die Einflüsse des sozialen Kontextes auf Hochschulprüfungen anhand umfangreichen Datenmaterials analysiert und kommt zu dem ernüchternden Schluss: „Angesichts der Resultate scheint starke Vorsicht geboten, wenn Examensnoten vergleichend angewendet werden sollen.“ (Volker Müller-Benedict, Elenea Tsarouha: Können Examensnoten verglichen werden? In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 40, Heft 5, Oktober 2011, S. 407). Selbst wenn man unterstelle, dass alle Regeln einer guten Testpraxis eingehalten werden, was nicht von ungefähr viele Experten bezweifeln, würde demnach die Tatsache, welches Fach man studiert, welchen Abschluss man anstrebt, an welcher Hochschule man die Prüfung ablegt und in welcher Arbeitsmarktsituation man studiert, die Abschlussergebnisse erheblich beeinflussen. Durchschnittliche Unterschiede zwischen den Fächern reichen bis zu zwei ganzen Noten, zwischen Hochschulen im selben Fach bis zu einer halben Note, wobei die fachlichen Differenzen über Jahrzehnte stabil blieben, die zwischen den Hochschulen aber einer größeren Veränderlichkeit unterliegen.

Erklärungsversuche und Vermutungen

Mit der Analyse von Benedict verliert die sympathischste Erklärung für immer bessere Noten, nämlich dass die Leistungsfähigkeit der Studierenden seit Ende der 60er-Jahre (davor ja nicht!) kontinuierlich zugenommen habe, an Überzeugungskraft. Zwar liegen materielle, die wirkliche Qualität von Examensarbeiten im diachronen Vergleich erfassende Studien, kaum vor. Es gehört aber schon mehr als nur guter Wille dazu, zu glauben, dass trotz der Entwicklung zur Massenuniversität, trotz der sich zwischen 1970 und 2010 ständig verschlechternden Betreuungsrelation zwischen Professoren und Studierenden sowie der gleichzeitigen dramatischen Ausweitung der Jahrgangsquote an Hochschulzugangsberechtigten sich eine so signifikante Leistungssteigerung vollzogen habe. Es fiele auch schwer zu begründen, warum diese Leistungssteigerung sich so uneinheitlich hinsichtlich verschiedener Fächer und Hochschulen vollzogen hat.

Ein weiteres Erklärungsmuster besteht darin, die sehr guten Examensergebnisse gerade in naturwissenschaftlichen Fächern mit den hohen Abbrecherquoten zu erklären, so dass am Schluss eben nur die Besten übrig blieben. Erstens müsste dann mit der Verbesserung der Noten auch eine proportionale Steigerung der Abbruchzahlen einhergehen, wofür jegliche systematischen Belege fehlen und zweitens gibt es eben auch Fächer, die das Notenlifting nicht mitgemacht haben, wie etwa die Rechtswissenschaften, mit vergleichbar hohen Abbrecherquoten. Man könnte auch die zunehmenden Klagen von Universitäten über die mangelnde Qualität der Studienanfänger als Gegenargument einer wirklichen Leistungssteigerung anführen, denn mit schlechteren Studienanfängern ständig bessere Examensabschlüsse hinzukriegen, wäre wirklich ein Wunder, – aber angesichts dessen, dass aufnehmende Institutionen schon seit fast 200 Jahren über die Defizite der Neuanfänger klagen, kann man dem wohl keine empirische Evidenz zubilligen. Große Aufregung verursachte 2012 etwa eine Befragung von 135 Hochschulfakultäten zur Lese- und Schreibkompetenz von Studierenden. Erstsemester hätten demnach massive Lücken in Rechtschreibung und Orthographie, der Beherrschung von Grammatik und Syntax. Laut dem die Befragung durchführenden damaligen Vorsitzenden des Philosophischen Fakultätentages und Bayreuther Philologieprofessors Gerhard Wolf konstatierte das übereinstimmende Befragungsergebnis den Studierenden “mangelnde Fähigkeiten, selbständig zu formulieren und zusammenhängende Texte zu schreiben”. (http://www.deutschlandradiokultur.de/medienkompetenz-sehr-gut-deutsche-sprache-mangelhaft.954.de.html?dram:article_id=216137). Studienanfänger seien überwiegend nicht mehr in der Lage, den roten Faden eines Textes zu erkennen oder schlüssige Mitschriften aus Vorlesungen anzufertigen.

Wenn also gestiegene Leistungen als Ursache der Noteninflation – womit sie dann übrigens auch keine mehr wäre, weil hinter den Noten auch entsprechende Leistungen stünden – ausscheidet, dann bleibt man auf mehr oder minder plausible und begründbare Vermutungen angewiesen, wie sie etwa Leo Schubert zusammengefasst hat (Schubert Leo : Noteninflation, HTWG-Forum – Das Forschungsmagazin der Hochschule Konstanz, ISSN 1619-9812, 2014/2015, S. 56-63).

Einige seien herausgegriffen:

  • Mit der Umstellung vom Diplom zu Bachelor und Masterabschlüssen seien vermehrt Prüfungsformen wie Referate und Studienarbeiten implementiert worden, was oft mit besseren Bewertungen einhergegangen sei.
  • Durch die heute an den meisten Hochschulen verankerten Möglichkeiten, Dozenten und Lehrveranstaltungen zu bewerten, habe sich eine Art Agreement etabliert, gute Prüfungsergebnisse mit guten Bewertungen zu honorieren und umgekehrt.
  • Die personelle Überlastung führt teilweise zu sehr oberflächlichen und pauschalen Korrekturen der Prüfungsarbeiten.
  • Bessere Noten bedeuten auch – das betrifft übrigens Schulen und Hochschulen gleichermaßen – weniger Ärger und Diskussionen mit enttäuschten Prüflingen bzw. einen geringeren Mehraufwand für Wiederholungs-, Nach- und Zusatzprüfungen.

Was Schubert nicht erwähnt, was aber meiner Ansicht nach vor allem in den Sozial-, Geistes- und Sprachwissenschaften eine nicht geringe Rolle spielt, ist die Distanz vieler Hochschulprofessoren zur Notengebung generell. Eine Mitwirkung an diesem gesellschaftlichen Allokations- und Selektionsprozess wird nicht selten aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt. Für diese Vermutung spricht, dass, wie oben erwähnt, der Beginn der fortschreitenden Noteninflation sich bei den meisten Fächern ziemlich genau auf den Zeitraum ab 1970 festmachen lässt, also die Zeit, da die „Selektions- und Reproduktionsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft“ verstärkt in den Fokus der Kritik rückten.

Sicher mag auch eine Rolle gespielt haben, dass sich seit den 70er-Jahren die Arbeitsmarktsituation auch für Akademiker verschärft hat und so mancher Dozent hoffte, durch gute Noten die Jobchancen seiner Studentinnen und Studenten zu verbessern.

Seit der Umstellung auf das gestufte Studiensystem kommen dazu spezielle Effekte, beispielsweise die Abhängigkeit der Zulassung zum Masterstudium von der Note beim Bachelorabschluss. Da gab es vor einigen Jahren an einzelnen Universitäten ein böses Erwachen, als die eigenen Studenten bei der Zulassung zum Masterstudium weitgehend leer ausgingen, weil sie ihnen die begehrten Studienplätze von besser benoteten Bachelorabsolventen aus benachbarten Hochschulen weggeschnappt wurden. Die Gegenreaktion war absehbar: Um nicht die eigenen Studierenden zu benachteiligen, glich man sich vielfach an das (bessere) Notenniveau anderer Hochschulen an.

Anders als in den angelsächsischen Ländern spielt aber ein Argument im Zusammenhang mit Noteninflation in Deutschland keine Rolle. So wird z.B. in den USA die „grade inflation“ auch darauf zurückgeführt, dass viele Universitäten hohe Studiengebühren (Harvard: 35 000 Dollar per annum) verlangen und damit quasi eine Verpflichtung eingegangen wird, die teuer bezahlenden „Kunden“ auch mit entsprechenden Dienstleistungen in Form guter und bester Noten zu versorgen. Mit Bayern hat vor wenigen Jahren bekanntlich das letzte Bundesland verpflichtende Studiengebühren abgeschafft.

Konsequenzen der aufgezeigten Entwicklungen

Was sind aber die Konsequenzen der aufgezeigten Entwicklung für Studierende, für Hochschulen, für die so genannte Abnehmerseite?

Für besonders leistungsfähige und klar überdurchschnittlich qualifizierte Studierende ergibt sich die Notwendigkeit, neben dem Uniabschluss andere und zusätzliche Felder der Profilierung zu finden, um sich von der Masse der Gutbewerteten abzuheben. Das kann eine Promotion sein oder eben Stipendien, Preise, Praktika oder auch Zusatzqualifikationen wie eine größere Sprachenvielfalt. Bezüglich Promotionen darf aber der Hinweis nicht fehlen, dass auch bei deren Bewertung Noteninflation und Bewertungsunterschiede zwischen Fakultäten und Universitäten eine große Rolle spielen. Beispielsweise ist der Anteil der Doktoranten mit der Höchstbewertung „summa cum laude“ in den Wirtschaftswissenschaften von 22 Prozent vor zehn Jahren auf heute über 34 Prozent gestiegen – allerdings mit riesigen Standortunterschieden. In Bamberg beispielsweise erreichten sogar 70 Prozent die Bestbewertung. (http://www.forschungsinfo.de/promotionsnoten/)

Für die Hochschulen hat der Wissenschaftsrat eine Reihe von Vorschlägen erarbeitet, die Noteninflation einzudämmen und die Objektivität und Vergleichbarkeit der Prüfungen zu verbessern, ohne dass diese Hinweise bislang zu nennenswerten Anstrengungen seitens der Hochschulen geführt haben. Dazu gehören anonymisierte Zweitbewertungen aber auch der Ausweis von Durchschnitten und Rangplätzen auf Abschlusszeugnissen.

Die Unternehmen und öffentlichen Arbeitsgeber stehen vor der Herausforderung, sich einerseits eine umfassende Informationsbasis beispielsweise über Bewertungsmaßstäbe und Notenniveaus verschiedener Fachrichtungen und Hochschulen zu verschaffen, um sich ein möglichst differenziertes und umfassendes Bild der Wertigkeit von Hochschulabschlüssen machen zu können bzw. gegebenenfalls eigene zusätzliche Auswahlverfahren zu entwickeln.

Es gibt aber einen großen Unterschied zum Problem der Vergleichbarkeit und Noteninflation bei Abiturzeugnissen. Während nämlich jeder Arbeitgeber frei darin ist, zu den reinen Examensnoten zusätzliche Kriterien und Erkenntnisse bei der Einstellung heranzuziehen, entscheidet bei zulassungsbeschränkten Studiengängen oft ausschließlich die erzielte Abinote bis hin zum Zehntel nach dem Komma, unabhängig davon, an welcher Schulart, an welcher konkreten Schule oder in welchem Bundesland diese Note erzielt wurde. Deshalb besitzt das Thema Vergleichbarkeit und Noteninflation bei Abiturzeugnissen eine in meinen Augen erheblich höhere Brisanz als es dieses Thema im universitären Sektor hat.

Noteninflation und Vergleichbarkeit von Abiturprüfungen

Von Noteninflation wird in den letzten Jahren nicht zuletzt verstärkt im Bereich der Schulen gesprochen. Auch da gilt es, sich einmal genauer anzuschauen, was Statistiken über eine Aufwärtsentwicklung von Noten sagen, um dann in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob dies mit gestiegenen Leistungen zusammenhängt. Daten zu Notenentwicklungen in Zeugnissen an verschiedenen Schularten in den Bundesländern gibt es nicht bzw. wurden bislang nicht veröffentlicht. Woran man sich halten kann, sind die alljährlichen Statistiken, die das Sekretariat der Kultusministerkonferenz über die Abiturdurchschnittsnoten in den einzelnen Bundesländern veröffentlicht. (https://www.kmk.org/dokumentation-und-statistik/statistik/schulstatistik/abiturnoten.html)

Analysiert man dabei die Entwicklung von 2002 bis 2014, also den derzeit letzten dokumentierten Abiturjahrgang, dann fällt zunächst einmal auf, dass eine Notenverbesserung in den meisten Bundesländern festzustellen ist, diese aber insgesamt bundesweit mit rund 0,15 geringer ausfällt, als etwa im selben Zeitraum vom Wissenschaftsrat für die Universitäten ausgewiesen wurde. Allerdings stellt sich die Situation von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich dar. Während sich z.B. der Durchschnitt in Baden-Württemberg von 2002 zu 2014 von 2,35 (2002) zu 2014 (2,46) sogar um 0,11 Notengrade verschlechterte, haben sich die Abidurchschnittsnoten in Bayern (2002: 2,46 2014: 2,33), in Berlin (2002: 2,76 2014: 2,42) in NRW (2002: 2,68 2014: 2,50) und Thüringen (2002: 2,33 2014: 2,17) zum Teil deutlich nach oben bewegt. Noch auffallender ist die in diesem Zusammenhang gestiegene Zahl an Bestabiturnoten, also 1,0-Ergebnissen. Während diese Note beispielsweise laut den von der KMK veröffentlichten Statistiken im Jahr 2002 im Land Berlin nur 17 Mal erzielt wurde, stieg diese Zahl schon zehn Jahre später 2012 auf das Vierzehnfache (234) an. In anderen Bundesländern ist der Trend bei der Zunahme der Bestbewertungen ähnlich, wenn auch nicht so dramatisch. Im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW verdreifachten sich beispielsweise die Zahl der 1,0 Abiturienten allein von 2006 (412) bis 2014 (1221).

Notenverbesserungen im Kontext schulpolitischer Reformen

Betrachtet man diesen Trend zu besseren Abiturnoten genauer, dann zeigt sich, dass diese Entwicklung über den dokumentierten Zeitraum hinweg nicht kontinuierlich, sondern teilweise sehr sprunghaft verläuft.

In Bayern und NRW, aber nicht nur dort, gibt es deutliche Anhaltspunkte dafür, dass bessere Abiturnoten mit bildungspolitischen bzw. schuladministrativen Maßnahmen zusammenhängen. Ein klar erkennbarer Notenanstieg erfolgte in Bayern nach dem Jahr 2010, als die für das G8 geltenden neuen Abiturregelungen in Kraft traten, die zwar eine verbindliche schriftliche Abiturprüfung in Deutsch und Mathematik, aber gleichzeitig auch eine bessere Bewertung mündlicher Leistungen, eine 5. Abiturleistung und Praxisseminare vorsahen. In NRW führte dagegen die Einführung des Zentralabiturs zu einem signifikanten positiven Noteneffekt. Ähnliches lässt sich auch für die Einführung des Zentralabiturs in den Nach-PISA-Jahren in anderen Bundesländern beobachten. Der Grund liegt auf der Hand: Alle Bildungsministerien sind eifrig darauf bedacht, dass Schulreformen nicht zu Notenverschlechterungen führen, weil dadurch die Akzeptanz dieser Reformen in der Bevölkerung beeinträchtigt würde. Es gibt inzwischen auch Studien, die belegen, dass die kompetenzorientierten Aufgabenstellungen beim Abitur in einigen Fächern weniger anspruchsvoll sind als vor Einführung des Landeszentralabiturs (vgl. z.B. Hans-Peter Klein: Die neue Kompetenzorientierung: Exzellenz oder Nivellierung? In ZfdB, Vol 1 (2010), S.15-26) und allein deshalb auch bessere Noten erwartet werden können.

Weitere Anzeichen für Notenlifting: Sinkende Sitzenbleiber- und Schulabbrecherquoten

Es gibt allerdings aber noch andere Anzeichen dafür, dass auch die Schulen von einem Notenlifting nach oben erfasst worden sind: Die Mehrheit der Bundesländer meldet Jahr für Jahr sinkende Sitzenbleiberquoten, die Zahl der Schulabbrecher ging in den letzten zehn Jahren um ein gutes Drittel zurück.

An der Hoffnung, dass hinter dem gestiegenen Notenniveau an Schulen, auch an Gymnasien, bessere Leistungen stehen, möchte man gerade als Lehrer und Bildungslobbyist gerne festhalten. In diesem Zusammenhang wird häufig auf die bundesdeutschen PISA-Ergebnisse verwiesen, die sich von 2000 bis 2012 deutlich verbessert hätten. Allerdings sind sich viele Bildungsforscher darüber uneinig, ob die Verbesserung bei PISA nicht mehr mit der Anpassung an die dortige Prüfungskultur und veränderten Kompositionseffekten (höherer Gymnasiastenanteil) zu tun hat als mit besseren Leistungen. Beispielsweise hat sich bei der Testung der 15-Jährigen im erfassten Zeitraum der letzten 15 Jahre auch nicht annähernd eine solche Leistungsexplosion im Spitzensektor der obersten Kompetenzstufen gezeigt, wie es der rasante Anstieg der 1,0-Abiture nahelegen würde. Zudem wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der Rückgang der Schulabbrecher von 2003 zu 2013 von fast 9,8 auf 5,9 Prozent eigentlich hätte begleitet sein müssen mit einem entsprechenden Rückgang auch der sogenannten Risikoschüler, die bis zum Ende ihrer Schulzeit auf Grundschulniveau hängen bleiben. Laut Bildungsbericht 2014 sank deren Anteil aber nicht um 40 Prozent, sondern nur 25 Prozent. (vgl. Heike Schmoll: Schluss mit der zertifizierten Inkompetenz http://www.helmholtz.de/wissenschaftspolitik/schluss-mit-der-zertifizierten-inkompetenz-2751/).

Es gibt also tatsächlich klare Indizien dafür, dass der Anstieg der guten und sehr guten Abiturnoten, aber auch der Rückgang von Abbrecher- und Sitzenbleiberquoten nicht überwiegend auf Leistungssteigerungen zurückgeführt werden kann, man also auch im Schulbereich von einer Noteninflation sprechen kann.

Warum Noten immer besser werden

Bei der Ursachenforschung dafür ist man wie bei der Noteninflation an den Hochschulen in erster Linie auf Vermutungen angewiesen:

  • Die Politik verschafft sich Akzeptanz für Bildungsreformen durch Notenverbesserungen. Wie oft erklären Politiker heute, dass G8 zu weniger Sitzenbleibern und besseren Noten geführt habe? Das war aber wohl kein Zufallseffekt, sondern bewusst gewollt und einkalkuliert.
  • Als gute Schule gilt heute ein Gymnasium, das möglichst gute Abischnitte erreicht und möglichst alle Schulanfänger auch zum Abitur führt. Inzwischen gibt es Bundesländer, die solche Kennzahlen veröffentlichen und Zeitungen, die daraus ein Ranking entwickeln (z.B. Berliner Morgenpost vom 21.6.2013: Abitur 2013 – Das sind Berlins beste Schulen. Von Regina Köhler und Florentine Anders)
  • Schulen mit zu schlecht ausgefallenen Jahrgangsstufentests und zu hohen Sitzenbleiberquoten müssen sich in vielen Ländern zunehmend gegenüber der Kultusbürokratie rechtfertigen. Diesen Druck geben Schulleitungen oft direkt an die Lehrkräfte weiter
  • Es gibt zunehmende Bundesländer, in denen zu schlechte Klausurenschnitte dazu führen, dass Tests wiederholt werden müssen oder notenmäßig aufgebessert werden.
  • Die in den Bundesländern differierenden Vorschriften für die Erstellung von Noten wurden in den letzten Jahren deutlich schülerfreundlicher gestaltet, z.B. sind in NRW heute deutlich weniger Inhaltspunkte für eine 4 minus erforderlich als noch vor 10 Jahren
  • In einzelnen Fächern wurden die Anforderungen im Zuge von Lehrplankürzungen gesenkt, in den Fremdsprachen ist heute fast durchgängig die Benutzung von Wörterbüchern in der Oberstufe gestattet, fehleranfällige Übersetzungen wurden durch eine „mediation“ ersetzt.

Ein Abitur wird einem auch heute nicht geschenkt, aber …

Natürlich muss man sich auch heute noch für gute Noten an Gymnasien anstrengen, ein sehr gutes Abitur wird einem auch im Jahre 2016 nicht geschenkt. Aber die Chance, die sehr guten von den nur guten oder durchschnittlichen in und zwischen den Ländern zu unterscheiden und deutlich zu erkennen, ist schwieriger geworden.

Eine 1,0 ist keine Garantie auf einen bestimmten Studienplatz mehr. Berichtet wird über medizinische Fakultäten, die dreimal so viele Bewerber mit 1,0 haben als verfügbare Studienplätze. Konsequenz: Es muss gelost werden. Damit drohen schon fast amerikanische Verhältnisse, wo in Berkeley unlängst unter 31 000 Bewerbern auf 8200 Studienplätze rund 15 000 mit der Bestnote waren. (Reinhold Sackmann: Die Bedeutung institutioneller Auswahlprozesse für die Erzeugung von Bildungsungleichheit. S.40 In: W. Helsper, Heinz-Hermann Krüger Hrsg. Auswahl der Bildungsklientel. Wiesbaden 2015. S. 31 – 69).

Mehr Bildungsgerechtigkeit durch bessere Noten?

Es gibt auch eine moralische Rechtfertigung für bessere Noten und die besteht in der Hoffnung, dass dadurch das Bildungssystem gerechter werde, weil auch bildungsferne Schichten hiermit bessere Erfolgschancen z.B. am Gymnasium hätten. So wird beispielsweise der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm folgendermaßen zitiert: „Wenn wir mehr Gruppen in die Hochschulen lassen, sinkt nicht das Niveau, sondern das System wird gerechter.“ (taz vom 18.6.14, Die Angst vor den Bildungsaufsteigern, von Anna Lehmann).

Dieser Frage, ob eine Absenkung von Prüfungsstandards zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen kann, ist Robert Schwager nachgegangen, indem er ein in der Wirtschaftswissenschaft übliches spieltheoretisches Modell konstruiert hat, das die Zuordnung von Arbeitskräften mit verschiedenen Fähigkeiten auf unterschiedlich anspruchsvolle Arbeitsplätze auf der Basis verschiedener Benotungsniveaus abbildet. Sein Ergebnis ist eindeutig, wenn auch wenig überraschend. Er kommt zu dem Schluss, dass bei einer Noteninflationierung die attraktiven Arbeitsplätze denjenigen Absolventen vorbehalten werden, die nicht nur über eine gute Note, sondern auch eine privilegierte Herkunft verfügen. Eine solche Notenvergabe mache es nämlich Schülern aus sozial schwachen Verhältnissen unmöglich, ihre wirklichen Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt zu signalisieren. Er hält abschließend fest: „Aus bildungspolitischer Sicht bedeuten diese Ergebnisse, dass nachsichtige Benotung und reduzierte Prüfungsanforderungen nicht geeignet sind, um gesellschaftliche Mobilität zu fördern. Im Gegenteil, fähige, aufstrebende Schüler aus schwierigem sozialen Umfeld haben in einem meritokratischen Schulsystem, das Leistungen ernsthaft prüft und die erzielten Ergebnisse ungeschönt dokumentiert, die besten Chancen.“ (Robert Schwager: Grade Inflation, Social Background, and Labour Market Matching. In: Journal of Economic Behavior Organization, January 2008, Zitat aus der deutschen Zusammenfassung in: ftp://ftp.zew.de/pub/zew-docs/dp/dp08070.pdf)

Interessant ist, dass der wohl renommierteste deutsche Moralphilosoph, Vittorio Hösle, in seinem Standardwerk „Moral und Politik“ aus moralphilosophischer und nicht wie bei Schwager aus wirtschaftsökonomischer Sicht exakt zu der gleichen Schlussfolgerung kommt:

„Es ist in jedem Fall unsinnig, wenn man meint, soziale Gerechtigkeit dadurch fördern zu können, dass man die Standards der Schulen und Hochschulen jedes Jahr senkt und eine ‚Noteninflation’ betreibt – das ist ein ebenso untaugliches bildungspolitisches Mittel wie die Bedienung der Notenpresse bei der Lösung sozialer Probleme.“ (Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997, S. 1126)

Ein Verbesserungsvorschlag für mehr Vergleichbarkeit

Neben der generellen Fragwürdigkeit noteninflationärer Tendenzen bleibt bei den Abiturnoten das Gerechtigkeitsproblem der mangelnden Vergleichbarkeit. Wenn in einem Bundesland der Abidurchschnitt im Jahre 2014 2,17 beträgt und dort in Thüringen fast 3 Prozent der Abiturienten die Bestnote 1,0 erreichen, während es in Niedersachsen bei einem Schnitt von 2,61 nur 0,8 Prozent 1,0-Abiturienten gibt, dann ist angesichts der Tatsache, dass inzwischen fast 50 Prozent der Studiengänge zulassungsbeschränkt sind, diese Gerechtigkeitslücke mit Händen zu greifen.

Man darf aus den bereits zuvor erörterten Gründen auch sehr skeptisch sein, ob die Einführung von bundesweit einheitlichen Abiturbestandteilen ab dem Jahr 2017 zu mehr Vergleichbarkeit und Gerechtigkeit führen wird. Es wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch weiterhin keine Landesregierung eine Schulreform durchführen, die ihren Abiturientinnen und Abiturienten eine Notenverschlechterung bescheren könnte.

Ich habe deshalb große Sympathie für einen Vorschlag, den Bijan Moini im SPIEGEL am 22.7.2015 gemacht hat (vgl. Stephanie Schiemann: Die Vergleichbarkeit von Abiturquoten und -noten. MDMV 23/2015/ S.186f), nämlich in allen Bundesländern eine relative Größe, den Rang des Abiturienten im Vergleich zu seinen Mitabsolventen, in das Abiturzeugnis aufzunehmen. Diese relative Größe soll die Platzierung im jeweiligen Bundesland erfassen, geteilt durch die Gesamtzahl aller Abiturienten seines Bundeslands mal 1000, anschließende Rundung auf eine ganze Zahl zwischen 0 und 1000. Moini wörtlich: „Der Rang wäre über die Landesgrenzen und Jahrgänge hinweg vergleichbar. Schüler würden künftig zunächst nur mit jenen vergleichen, deren Noten unter vergleichbaren Bedingungen entstanden. Dass ein Einser-Abitur in einem Bundesland oder Jahrgang leichter zu erreichen ist als in einem anderen, hätte dann auf die Studienzulassung keine Auswirkung mehr.“ (ebenda S.187)

Zwar würde dieser Vorschlag dazu führen, dass tatsächlich vorhandene Unterschiede zwischen den Ländern beim Leistungsniveau der Abiturienten weiterhin nicht erfasst werden. Das gelingt aber schon jetzt nicht einmal im Ansatz. Diese Zusatzinformation ermöglichte aber nicht nur eine bessere Vergleichbarkeit, sondern nähme auch der Bildungspolitik in den Ländern den Anreiz weg, durch ständige Noteninflationierung die Chancen der eigenen Landesabiturienten künstlich zu verbessern.