„Manche Jugendliche setzen sich sehr engagiert mit politischen Themen auseinander, andere interessiert es gar nicht – ein früheres Wahlrecht wird das nicht automatisch ändern!“

Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, äußert sich zur Debatte um ein Wahlalter ab 16 – wie jetzt zur Europawahl – wie folgt: 

„Bei der politischen Bildung von Jugendlichen kommt es auf vier Faktoren an: Das Elternhaus, die Gesellschaft, die Schule und die Jugendlichen selbst. Die Schule kann nur Teile der politischen Bildung abdecken, genauso wichtig ist es, dass Kinder und Jugendliche in familiären und anderen gesellschaftlichen Kontexten mit politischen Themen zu tun haben.  

Ob es gut ist, das Wahlalter abzusenken: Da bin ich hin- und hergerissen. Was das Interesse von Jugendlichen für Politik angeht, muss man differenzieren: Wir haben Jugendliche, die sich sehr stark mit politischen Themen auseinandersetzen. Aber ein großer Teil interessiert sich eben auch nicht die Bohne für Politik als Ganzes mit ihren vielen Facetten – da sind Jugendliche nicht anders als ein Teil der Erwachsenen. 

Das Interesse für die Auseinandersetzung mit politischen Themen entsteht nicht automatisch mit der Erlangung des Wahlrechts, da sollten wir nicht zu optimistisch sein. Auch kann die Schule das Interesse mit allen pädagogischen Anstrengungen und politischen Themen im Unterricht nicht erzwingen. Wir glauben immer, wenn die Schule politische Bildung unterrichtet, wurde viel erreicht. Aber das ist eben nur ein Aspekt. 

Tatsächlich werden alle Jugendlichen durch die Schule im Rahmen des Politik- und Geschichtsunterrichtes vorbereitet. In Bayern etwa gibt es das Fach „Politik und Gesellschaft“. Woanders heißt es Gesellschaftskunde, Sozialwissenschaft oder Geschichte und Politik. Die Bezeichnung ist egal, aber politische Information findet statt, auch übrigens im Ethik- oder Religionsunterricht oder auch im Englisch-Unterricht, etwa wenn es um die globalen Folgen des Klimawandels geht. Für die Europawahl wird den Lehrkräften entsprechendes Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt. Eine Kürzung des Politikunterrichts darf es daher auch bei Lehrkräftemangel nicht geben. Wo möglich, sollte er ausgeweitet werden.  

Ob sich allein durch das Wahlrecht das Interesse an Politik wecken lässt: Da habe ich meine Zweifel. Schon bei den Erwachsenen lag die Gruppe der Nichtwähler bei vergangenen Europawahlen bei rund 40 Prozent. Und die sind sicher nicht der Wahl ferngeblieben, weil sie erst mit Erreichen der Volljährigkeit wählen durften. Offenbar hat sie nicht einmal die persönliche Betroffenheit von politischen Entscheidungen als Steuerzahler, als Arbeitnehmer, als Eltern an die Wahlurnen gebracht.  

Wenn schon bei vielen älteren Wahlberechtigten das Interesse nicht besonders groß ist, warum sollte es bei Jugendlichen anders sein? Ich befürchte, viele junge potenzielle Erstwähler werden auch am kommenden Sonntag nicht zur Wahl gehen.  

Was nicht zu unterschätzen ist, ist auch die mangelnde Lebenserfahrung und Reife. 16-Jährige erinnern sich nicht, was vor zehn Jahren war und wie Politik die Vergangenheit beeinflusst hat. 40-Jährige schon. Und Verantwortung über die eigene Person hinaus für das große Ganze zu übernehmen, ist etwas, das reifen muss. Nicht umsonst ist die Volljährigkeit erst mit 18 Jahren erreicht. 

Wenn Bundesfamilienministerin Lisa Paus jetzt fordert, das Wahlalter auch für die Bundestagswahlen zu senken, sehe ich das sehr kritisch. Die Bereitschaft, wählen zu gehen, wird nicht automatisch durch die Wahlberechtigung gefördert. Die Vermittlung demokratischer Werte hängt nicht an einer frühen Wahlberechtigung. Und sie muss schon viel früher ansetzen – in den Familien und vor dem 16. Lebensjahr.”  

Bild: Tim Reckmann  / pixelio.de