Überlegungen des Deutschen Lehrerverbands zu Verantwortlichkeiten von Gesellschaft, Politik, Eltern und Schule
Als Gesellschaft, als Schulen, als Familien und als Einzelpersonen stehen wir angesichts der Entwicklungen im digitalen Bereich der letzten Jahrzehnte vor vielen Fragen. Neben übermäßiger Handynutzung oder Social-Media-Abhängigkeit und Problemen auf diesen Plattformen wie Sucht- und Mobbingverhalten hat vor wenigen Jahren auch der Bereich KI, Chatbots und Large Language Models an Bedeutung gewonnen, deren Entwicklung erst ganz am Anfang steht und rasant an Fahrt aufnimmt.
Deutlich ist: Das Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Die Kinder und Jugendlichen, die heute und morgen aufwachsen, werden keine „analoge“ Kindheit wie bis zu den 80er-Jahren mehr haben. Ihr Alltag in jedem Lebensalter wird von digitalen Anwendungen wie selbstverständlich geprägt sein, in den Bereichen Kommunikation mit Familie und Freunden, Information, Lernen, Alltagsbewältigung, vom digitalen Bibliothekskonto über die Verbindungssuche beim ÖPNV hin zu allen möglichen Freizeitangeboten und -planungen.
Auch Erwachsene, die vielleicht noch nur mit einem Festnetzanschluss pro Familie aufgewachsen sind, zeigen problematisches Nutzungsverhalten online – von Suchtverhalten bei Online-Spielen und Netzwerken über verkürzte Aufmerksamkeitsspannen und Abkehr von traditionellen Medien wie Büchern und Zeitungen bis hin zu abwertenden Äußerungen jenseits jeder erlernten Höflichkeit und Mobbingverhalten auf Sozialen Netzwerken und in den Kommentarspalten von Online-Medien. Eine „analoge“ Kindheit ist also kein automatischer Schutz. Die Lösung kann daher nicht sein, den Zugang für Heranwachsende rigoros und komplett zu beschränken und ihnen dann zu einem bestimmten Zeitpunkt – z.B. mit 16 Jahren – komplett ohne Erfahrung den Zugang zu Social Media zu ermöglichen.
Die heutigen Kinder und Jugendlichen werden in einer digitalen Welt leben und arbeiten und im Lauf ihres Lebens eine Durchdringung des Alltags durch Digitalität erfahren, wie wir sie uns heute wahrscheinlich noch gar nicht vorstellen können. Es ist entscheidend, dass wir ihnen das Wissen über digitale Programme, Algorithmen, KI und Chatbots vermitteln und die Zeit zum Lernen und Üben geben, die einen mündigen Gebrauch dieser Werkzeuge ermöglicht – und auch, wie sie sich in sozialen Netzwerken bewegen. Die aktuellen Netzwerke werden möglicherweise wieder aus der Mode kommen – aber es wird neue geben, so wie auch Snapchat und Tiktok irgendwann neu waren. Verbote sind dabei eine Ausweichbewegung, um Investitionen von Zeit, Mühe und an den Schulen und Jugendeinrichtungen von Geld und Personal zu vermeiden, die dafür notwendig wären.
Stellen wir uns vor, Jugendliche wären erst mit 16 das erste Mal unbegleitet außerhalb des Hauses unterwegs. Jeder versteht, wie wenig sinnvoll das wäre – und wie unmöglich in der Umsetzung. (Ganz abgesehen davon, dass die Jugendlichen dagegen rebellieren würden.) Stattdessen lassen wir unsere Kindergartenkinder auch mal bis zum Park oder Spielplatz an der nächsten Ecke vorauslaufen, viele Grundschulkinder gehen alleine zur Schule, teilweise sogar mit dem Fahrrad oder mit dem ÖPNV, oder besuchen ihre Freunde. Die älteren Kinder und Teenager bewegen sich immer selbstständiger in ihrer Umgebung und fahren sogar selbständig in andere Städte. Eine ähnliche zunehmende Sicherheit und Selbständigkeit braucht es auch bei der Bewegung in der Online-Welt, kein plötzliches Hineinwerfen.
Die Lösung muss sein, dass Eltern und Familie und die Gesellschaft und ihre Institutionen Verantwortung übernehmen, den Kindern und Jugendlichen einen verantwortungsvollen altersgemäßen Umgang mit der Online-Welt allgemein – dazu zählt auch Social Media – und im Umgang mit den verschiedenen digitalen Endgeräten vermitteln. Für unterschiedliche Altersstufen bedeutet das ein unterschiedliches Maß an Kommunikation und Kontrolle durch Eltern, Erziehungsfachkräfte und Lehrkräfte. Z.B. wird für jüngere Teenager empfohlen, dass die Eltern Nutzungszeiten festlegen und nach wie vor einen vollumfänglichen Zugang zu den Handys und Laptops ihrer Kinder haben, den sie – idealerweise in vertrauensvoller Kommunikation mit ihren Kindern – in Abständen nutzen, um zu schauen, wie die Online-Welt und das Online-Verhalten ihrer Kinder aussieht.
Für alle in Erziehungsverantwortung wirkt es natürlich einfacher, wenn Social-Media-Plattformen für Jugendliche schlicht verboten sind, als die Aufgabe zu übernehmen, je nach Altersstufe intensiv oder weniger intensiv sich damit auseinanderzusetzen, was der Nachwuchs online so treibt. Im Gespräch und Diskussion mit den Kindern und Jugendlichen – und mit der letztlichen Entscheidungsgewalt der Erwachsenen – können gemeinsame Regelungen für Online-Zeiten und Handynutzungen gefunden werden. Das setzt voraus, dass die Eltern und anderen Erwachsenen in ihrer Umgebung selbst in ihrer Online-Nutzung ein Vorbild sind. Viele Kinder und Jugendliche sind durchaus bereit, sich an Regeln zu halten, wenn sie den Eindruck haben, dass diese sinnvoll, fair und angemessen sind.
Die Gefahren von Social Media sind vorhanden – aber ihre Vorteile auch. Jugendliche kommunizieren und schließen Freundschaften über ihre Region hinaus, ggfs. auch international, z.B. auch in Bezug auf ihnen wichtige Themen, für die sie vor Ort keine Ansprechpartner finden. Kinder und Jugendliche kommunizieren über Social Media und Messengern (zwischen beiden ist die Trennlinie gar nicht so genau) mit ihren Verwandten – z. B. Großeltern, die vielleicht 30, eventuell 300 oder sogar 3000 km oder weiter entfernt wohnen. Neben vielen problematischen Trends erhalten sie auch Inspiration und Anleitungen für Kunst, Handwerk und diverse Hobbies. Auch über politische und gesellschaftliche Nachrichten informieren sich Jugendliche heute auf Social Media, sie werden nicht zu den Angeboten von Online-Zeitungen oder linearem Fernsehen zurückkehren. Um problematischen Inhalten auf Social Media entgegenzuwirken, braucht es dort die Präsenz der demokratischen Parteien und Institutionen, der Medienhäuser, der gesellschaftlichen Initiativen.
Australien ist bisher der einzige Staat, der ein Verbot von Social-Media-Plattformen gesetzlich beschlossen hat – es ist allerdings noch nicht in Kraft getreten, bisher nutzen Jugendliche unter 16 dort weiterhin die sozialen Netzwerke, daher gibt es auch noch keine Erfahrungswerte zur praktischen Umsetzung. Aktuell werden dort Umsetzungsmöglichkeiten für die Altersverifikation geprüft, einen ersten Bericht soll es diesen Sommer geben. Die technische Umsetzung eines Social-Media-Verbots – im Einklang mit Datenschutzbestimmungen – ist also noch gar nicht entwickelt. Zudem ist zu erwarten, dass es verschiedene Umgehungsverhalten von Verboten geben würde – bei Jugendlichen und bei einigen Eltern, die ihren Kindern doch Zugang ermöglichen würden. Es gibt Maßnahmen, die Social-Media-Plattformen für alle Nutzerinnen und Nutzer sicherer machen würden – wenn Plattformen verpflichtet wären, diese umzusetzen, käme das auch dem Jugendschutz zugute.
Ein allgemeines Handyverbot für alle Altersstufen an den Schulen ist genauso kurz gegriffen wie ein generelles Social-Media-Verbot. Bildschirmfreie Zeiten – sowohl in der Schule wie auch in der Familie – sind auf jeden Fall zu empfehlen. Aber auch hier gilt: Je nach Altersstufen sollten unterschiedliche Regeln gelten und ein allmählicher Gebrauch dieser ziemlich allumfassenden Werkzeuge gelernt werden, von denen wir vor 30 Jahren noch nicht gedacht hätten, dass wir sie heute in der Hosentasche herumtragen. Jede Schule sollte für sich und ihre Situation und Schülerschaft entsprechende Regelungen finden. Das Ausschalten von Handys im Unterricht ist grundsätzlich sinnvoll, um Ablenkung zu vermeiden – in anderen Unterrichtssituationen kann die Nutzung des Handys aber sogar sinnvoll sein.
Statt Verbote braucht es Angebote – wenn wir wollen, dass unsere Kinder sich weniger online aufhalten, müssen wir ihnen Angebote in der analogen Welt machen: Bibliotheken, Schwimmbäder, Sportplätze, Vereine und AGs, Jugendclubs. Damit sie lernen, sich im digitalen Raum zu bewegen und dort wie im analogen Raum als mündige Bürgerinnen und Bürger ihr Leben zu gestalten, statt in Zukunft ohne Durchblick von Algorithmen überwacht und getrieben zu werden, müssen wir sie schrittweise an den eigenverantwortlichen Gebrauch heranführen.