Die Zukunftschancen unserer Kinder und Jugendlichen nach Corona nachhaltig sichern!
Bestandsaufnahme und Ausgangslage
Nach der ersten Lockdownphase im Frühjahr 2020 bestand noch die Hoffnung, bei einer Normalisierung des Schulbetriebs in diesem Schuljahr durch spezifische begrenzte Zusatzförderung im dann wieder stattfinden Präsenzunterricht die entstandenen Lernrückstände und Wissensdefizite kurz- und mittelfristig weitgehend ausgleichen zu können. Dieses Ziel ist heute in weite Ferne gerückt.
In den meisten Bundesländern summieren sich die Unterrichtsstunden, die nicht in Präsenz erteilt werden konnten, auf inzwischen ungefähr 400 bis 600 Unterrichtsstunden, was in der Spitze etwa einem halben Schuljahr entspricht. Auch wenn der Distanz- und Wechselunterricht nach großen Anfangsschwierigkeiten jetzt deutlich besser läuft, muss konstatiert werden, dass die durchschnittlichen Lernfortschritte dort geringer sind. Allerdings werden auch große Unterschiede deutlich, zwischen Kindern und Jugendlichen, die inzwischen gut mit dem Distanzlernen zurechtkommen, und einem nicht unerheblichen Teil, der inzwischen deutlich hinter der notwendigen Lernprogression liegt.
Dies hat sehr unterschiedliche Gründe. Teilweise liegt es an der technischen Ausstattung, an nicht zur Verfügung stehenden Geräten im Elternhaus. Betroffen sind vor allem auch jüngere Kinder, denen elterliche Unterstützung aus welchen Gründen auch immer fehlt, Schülerinnen und Schüler mit einem besonderen Förderbedarf, mit Handicaps, mit grundsätzlichen Sprachdefiziten, mit Migrationshintergrund oder auch Jugendlichen, deren Leistungsmotivation und Bildungswillen aus anderen Gründen nur gering ausgeprägt ist.
Es würde aber viel zu kurz greifen, den Blick allein auf die entstandenen Wissens- und Kompetenzdefizite in einzelnen Fächern oder auf bestimmte besonders benachteiligte Schülergruppen zu richten. Die schulische Bildung hat durch Corona und die Folgen insgesamt Schaden genommen, die Effektivität von Distanzunterricht hat generell die Wirksamkeit von Präsenzunterricht nicht erreicht. Dazu kommt, dass vieles von dem ausgefallen ist, was schulische Bildungs- und Erziehungsprozesse über die Bildungsinhalte hinaus ausmacht: Gemeinschaftsveranstaltungen, Projekte, musische Bildung (Schultheater, Kunstausstellungen, Musikfeste), Exkursionen, Studienfahrten, Wettbewerbe, Berufsorientierungsveranstaltungen und Schüleraustausch. Was wir also in Deutschland brauchen, ist nicht nur ein Nachholprogramm für eine bestimmte Gruppe, sondern ein umfassendes Bildungsaktivierungs- und Lernförderprogramm, von dem alle Schülerinnen und Schüler profitieren können.
Grundsätzlich lautet aber die Herausforderung, alles zu tun, damit die negativen Folgen von Corona die Zukunfts- und Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen nicht nachhaltig beeinträchtigen.
Bildungspolitik noch ohne tragfähiges Zukunftskonzept
Zunächst sind viele Landesregierungen davon ausgegangen, dass die Phase der Schulschließungen und des Distanzunterrichts so kurz sein werden, dass eine begleitende, auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhende Zusatzförderung von wenigen Stunden ausreichen würde, die entstandenen Bildungsrückstände relativ schnell wieder auszugleichen. Tatsache ist, dass die Lehrkräfte bisher zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit hatten, unter den gegebenen Umständen diese Ausgleichsaufgabe wahrzunehmen.
Ansonsten beschränken sich Schulministerien und Landesregierungen derzeit weitgehend auf Versuche, unzumutbare Härten zu verhindern, bisherige Leistungserhebungs-, Lehrplan- und Versetzungsregelungen zu flexibilisieren oder auch außer Kraft zu setzen sowie Abschlussprüfungen zu verschieben und in Teilen anzupassen. Das ist im Grundsatz nicht zu kritisieren, solange dies nicht zu einem Niveauabsenkungs- und Erleichterungswettbewerb führt, der neue Bildungsungerechtigkeiten zur Folge hat. Allerdings leistet dies im Hinblick auf den notwendigen Ausgleich der Lerndefizite keinen Beitrag und bleibt letzten Endes ein Herumdoktern an den Symptomen.
Bleiben diese Maßnahmen isoliert und folgt ihnen kein Ausgleich, drohen dauerhafte Nachteile. Sollten auch im nächsten Schuljahr wieder – wie schon im letzten Schuljahr – Kinder und Jugendliche unabhängig von ihren Leistungen in die nächste Jahrgangsstufe versetzt werden, laufen diese Gefahr, den Anschluss endgültig zu verpassen und den angestrebten Abschluss nicht zu schaffen. Andernfalls müssten dauerhaft Bildungsstandards und Prüfungsniveaus abgesenkt werden, was dazu führen würde, dass viele Schulabgänger in den nächsten Jahren mit einem geringeren Rüstzeug und Kenntnisstand die Schulen verlassen.
Untaugliche Problemlösungs-Vorschläge
Inzwischen häufen sich Vorschläge, die zu grundsätzlichen Eingriffen in den zeitlichen Ablauf des Schulbetriebs auffordern, um die Lerndefizite aufholen zu können.
Gefordert werden etwa eine Kürzung oder auch Streichung von Ferienzeiten, die Einführung von Samstagsunterricht, die Verlängerung des Schuljahres bis Weihnachten sowie die komplette Streichung und Wiederholung des aktuellen Schuljahres.
Alle diese Vorschläge sind weitgehend untauglich, das Grundproblem zu lösen, also die Schülerinnen und Schülern nach Bedarf wieder an das zu erreichende Leistungsniveau heranzuführen.
Ferienkürzungen und Samstagsunterricht würden zu einer weiteren Überforderung und Überlastung aller Betroffenen führen, also von Lehrkräften, Schülern und Eltern, die schon jetzt an der Belastungsgrenze stehen. Die Verlängerung oder Streichung des Schuljahres würde dazu führen, dass die gesamte Bildungskette, der jährliche Übergang vom Kindergarten zur Primarstufe, von Grundschulen an weiterführende Schulen und von weiterführenden Schulen ins Berufsleben und an Hochschulen unterbrochen würde – mit weitreichenden Folgen für den gesamten Wirtschaftsprozess und im Falle eines zusätzlichen Schuljahres für alle mit einem massiv erhöhten Lehrerbedarf, der nicht aufzufangen ist.
Der Kernpunkt aber ist: Alle diese Vorschläge scheren alle Schülerinnen und Schüler über einen Kamm, sie sind viel zu undifferenziert und werden damit der eigentlichen Herausforderung nicht gerecht. Notwendig ist ein zwar umfassendes, aber differenziertes und flexibles, längerfristig angelegtes Lern- und Bildungsförderungskonzept, angepasst an die unterschiedlichen Bedarfslagen je nach Schülerklientel, Altersstufe und Schulart. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler mit dem Distanzunterricht inzwischen gut zurechtkommt, so dass bei diesen zwar keine basalen Lernlücken aufgetreten sind, trotzdem aber auch besonderer ergänzender Förderbedarf sinnvoll sein kann. Es geht aber auch darum, Kinder und Jugendliche verstärkt in den Bereichen Angebote zu machen und für einen Ausgleich zu sorgen, die in Pandemiezeiten grundsätzlich zu kurz gekommen sind, also z.B. Projektwochen, musische Bildung, Sport, Wahlangebote, Schüleraustausch und Studienfahrten.
Dafür ist die Bereitstellung erheblicher, zusätzlicher Personal-, Zeit- und Finanzressourcen dringend erforderlich.
Feststellung des Lernbedarfs
Insgesamt brauchen wir in allen Bundesländern dringend ein Gesamtkonzept: Kindern und Jugendlichen, die während der Schulschließungen kaum erreicht wurden, muss eine besondere Förderung und Unterstützung im Schulalltags angeboten werden. Doch auch diejenigen, die nur begrenzte Hilfe nötig haben, dürfen nicht übersehen werden. Um den Umfang der notwendigen Maßnahmen bestimmen zu können, ist eine Bestandsaufnahme nötig und zwar so rechtzeitig, dass bis zum Ende des Schuljahres genügend Zeit bleibt für eine intensive Beratung von Schülern und Eltern, welche Form der Unterstützung sinnvoll und notwendig ist. Den Aufwand dafür kann man gering halten, da es nicht um eine fein differenzierte Leistungserhebung, sondern lediglich um die Identifizierung größerer grundsätzlicher Wissenslücken und Kompetenzdefizite geht.
Begleitende Zusatzförderung an Schulen
Schon vor Corona gab es Förderprogramme, die neben einer inhaltlich pädagogischen Konzeption auch und gerade die personelle Ressourcenfrage in den Fokus genommen haben. Wir brauchen inhaltlich ein individualisiertes Förderangebot, das auf der pädagogischen und sozialen Fachkompetenz der Lehrkräfte vor Ort aufbaut. Durch den massiven Lehrkräftemangel an unseren Schulen ist dies allerdings nur mit dem vorhandenen Personal- und Planstellenbestand zusätzlich nicht leistbar.
Mehr Flexibilität und Eigenverantwortung der Einzelschulen
Wir fordern deshalb dringend, den Schulleitungen mehr Flexibilität und Eigenverantwortung einzuräumen. Es muss den Schulen ermöglicht werden, zumindest vorübergehend zusätzlich zu den im Rahmen des fest zugewiesenen, an die Stundenpläne und Fächer gebundenen Unterrichtsbudgets besondere Schwerpunktsetzungen vornehmen zu können, also beispielsweise in Lerngruppen und Fächern mit einem hohen Nachholbedarf durch Teilung und Differenzierung mit Hilfe einer integrierten Lehrerreserve. Im Rahmen einer solchen flexiblen Stundentafel könnte jede Schule bedarfsorientiert und flexibel auf unterschiedliche Förderbedarfe reagieren. Die im Gegenzug notwendigen Kürzungen in anderen Lernangeboten und Fächern dürfen aber nicht dazu führen, dass die zentralen Lehrplanziele dort nicht erreicht werden.
Durch Krisensituationen wie jetzt in der Pandemie kommen Schulen meist besser, wenn ihnen mehr Freiraum zur Verwirklichung eigener, passgenauer Lösungen zugestanden wird.
Gewinnung von zusätzlichen Personalressourcen
Zusätzliche Förderangebote am Nachmittag oder im Rahmen eines binnendifferenzierten Unterrichts mit zwei Lehrkräften in einer Klasse setzen voraus, dass dafür mehr Personal zur Verfügung steht.
Um den generellen Lehrkräftemangel, kurzfristig und zeitlich befristet in der Coronakrise auszugleichen und darüber individualisierte Fördermöglichkeiten durch pädagogisch geschultes Fachpersonal in Kleingruppen anbieten zu können, sieht der DL folgende Möglichkeiten:
- Lehramtsstudierende gewinnen, denen die erteilten Unterrichtsstunden und Betreuungsaufgaben bezahlt sowie als Schulpraktika anerkannt werden,
- pensionierte Lehrkräfte zurückholen durch angemessene Vergütungsbedingungen bis hin zur Möglichkeit einer dauerhaften Erhöhung der Pension,
- Teilzeitkräfte zur freiwilligen Aufstockung durch attraktive Rahmenbedingungen motivieren.
Lernförderung durch außerschulische Bildungspartner
In dieser außergewöhnlichen Situation und auch in Zukunft kann es hilfreich sein, wenn Schulen bei der Lernförderung durch externe Partner und Institutionen mit Angeboten unterstützt werden, bzw. mit Bildungspartnern zusammenarbeiten. Voraussetzung dafür ist, dass nicht nur die Finanzierung dieser Zusatzangebote durch Bund und Länder gesichert, sondern auch dass eine klare Qualitätskontrolle sowie eine enge Zusammenarbeit mit Lehrkräften und Schulen gegeben sind.
In Frage kommen für diese unterstützende, außerschulische Zusatzförderung folgende Institutionen und Ämter:
- Volkshochschulen,
- Familienbildungsstätten,
- Jugendämter mit Inklusionsangeboten und individuellen Lernhilfen,
- Jobcenter und Sozialämter mit Leistungen wie Bildung und Teilhabe,
- Jobcenter und Jugendämter im Verbund für Angebote für Berufsschüler/innen,
- Gesundheitsämter und Krankenkassen mit präventiven lernsteigernden Angeboten,
- freie Jugendhilfeträger mit individuellen Hilfen für alle Altersgruppen,
- Anbieter von Nachhilfekursen,
- Anbieter von Lernplattformen,
- Personen in Nebentätigkeit, wie Lehramtsstudierende,
- freie Anbieter mit Mentoringprogrammen in denen außerschulischen Personen bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen für eine enge Begleitung von Schülerinnen und Schülern mit einem besonders großen Nachholbedarf gewonnen werden.
Diese Institutionen als Bildungspartner sollen mit ihren Fachkräften wie Schulsozialarbeiter/innen, Inklusionsfachkräfte, Schulpsychologen, Bildungsfachkräfte mit medizinisch-pflegerischer Grundausbildung Maßnahmen und Angebote passgenau für den Schulbereich entwickeln.
Ein zusätzliches freiwilliges Lernjahr
Ein Teil der Schülerinnen und Schüler hat seit dem ersten Lockdown und auch während der derzeitigen Schulschließungsphase erhebliche Lerndefizite angesammelt, die zwei Schuljahre betreffen und kaum mehr bis Schuljahresende aufgeholt werden können. Hier besteht die große Gefahr, dass diese Kinder und Jugendlichen auch mit einer begleitenden Zusatzförderung im nächsten Jahr den Anschluss nicht mehr schaffen können und werden.
Auf der Grundlage einer Bestandsaufnahme über den Förderbedarf und der anschließenden intensiven Beratung der Eltern und Schüler, ob und in welcher Form ein freiwilliges zusätzliches Lernjahr Sinn macht, wird dann eine Entscheidung über die Wahrnehmung dieses Zusatzjahres getroffen.
Der DL sieht hierzu zwei Möglichkeiten:
- Individuelles freiwilliges Wiederholen mit Befreiung von den negativen Folgen einer Pflichtwiederholung sowie eine integrierte Zusatzförderung bei Defiziten aus dem vorangegangenen Schuljahr,
- Das Angebot für Kinder und Jugendliche in eigenen Lerngruppen das Schuljahr zu wiederholen mit einem angepassten Lehrplan, der in erster Linie darauf gerichtet ist, die Lernrückstände, die in zwei Jahren entstanden sind, systematisch abzubauen.
Weil der Lehrermehrbedarf für die Wiederholungsjahre nur in kleinen Schritten, verteilt über ca. 10 Jahre anfallen wird, muss dieses Modell nicht am allgemeinen Lehrermangel scheitern.
Finanzierung und Langfristigkeit
Um diese Herkulesaufgabe schultern zu können, die langfristigen Zukunfts- und Bildungschancen unserer Kinder und Jugendlichen in der Schule trotz und nach Corona zu sichern, bedarf es auch finanziell einer großen Kraftanstrengung, die am besten gemeinsam von Bund und Ländern, analog dem Digitalpakt, zu schultern ist.
Wir fordern dazu ein Lern- und Bildungsförderprogramm in Höhe von mindestens zwei Milliarden Euro allein für den Zeitraum bis Sommer 2022. Ob eine Verlängerung notwendig ist, muss rechtzeitig vor Ende des nächsten Schuljahres geprüft werden.
Verantwortlich: Präsidium des Deutschen Lehrerverbands, April 2021
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