„Die Länder laufen Corona immer nur hinterher“

Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, im Interview mit Hubertus Volmer, am 05.01.2022 anlässlich der Online-Zusammenkunft der Mitglieder der KMK an diesem Tag

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, bezweifelt, dass die Bundesländer ihr Versprechen, am Präsenzunterricht festzuhalten, auch wirklich „durch geeignete bundeseinheitliche Maßnahmen“ absichern. Mit sinnvollen Beschlüssen bei der heutigen Tagung der Kultusministerinnen und Kultusminister rechnet er nicht. „Man wird zum hundertsten Male sagen, dass Präsenzunterricht ganz wichtig ist, man wird sich aber wohl wieder nicht auf einen gemeinsamen Notfall-Maßnahmenplan einigen“.

Die Länder seien bislang mit ihren Corona-Maßnahmen an den Schulen der Pandemie nur hinterhergelaufen. Auch generell zweifelt Meidinger den Sinn der KMK-Beschlüsse zu Corona an: „Es ist überhaupt die Frage, was Beschlüsse der KMK wert sind, wenn sie einerseits meist nur einen Minimalkonsens darstellen und andererseits klar ist, dass die eigentlichen Entscheidungen in der Runde der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit dem Bund fallen.“

Hubertus Volmer: Bei ihrer Tagung im Dezember hat die Kultusministerkonferenz beschlossen, dass „der kontinuierliche Präsenzunterricht an den Schulen (…) weiterhin höchste Priorität“ haben soll. Haben die Bundesländer denn die Voraussetzungen geschaffen, um Präsenzunterricht sicherzustellen?

Heinz-Peter Meidinger: Das ist in der Tat die große Frage, ob die KMK auch alles getan hat und tut, damit das von ihr ständig beteuerte und natürlich richtige Ziel eines dauerhaften vollständigen Präsenzunterrichts auch wirklich erreicht und sichergestellt werden kann.

Volmer: Kann es?

Meidinger: Wir haben große Zweifel daran. Im Grunde genommen sind die Länder doch in der Vergangenheit mit ihren Gesundheitsschutzmaßnahmen an den Schulen der Infektionsentwicklung und den sich daraus ergebenden Erfordernissen hinterhergelaufen. Die Testkonzepte waren lange Zeit unzureichend, die Einführung der Maskenpflicht kam vielfach zu spät und auch mit den Förderprogrammen für Raumluftfilteranlagen ließ man sich viel zu viel Zeit. Bei den Impfungen sieht es nicht besser aus, bei der erforderlichen Priorisierung der Lehrkräfte „vergaß“ man die Lehrer an weiterführenden Schulen und nur in wenigen Ländern gibt es niedrigschwellige Impfangebote für Schülerinnen und Schüler. Dazu kommt, dass die Länder nach wie vor jeweils ihr eigenes Ding machen und sich bislang nicht auf das in einer Pandemie notwendige gemeinsame Agieren verständigen konnten. Man hat das wieder bei den Weihnachtsferien gesehen, einige Länder haben bereits vorher die Präsenzpflicht aufgehoben, andere den Ferienbeginn vorgezogen oder die Ferien ein paar Tage nach hinten verlängert, manche haben alles so gelassen, wie es ist und ein Bundeland hat sogar eine Phase des Wechsel- und Distanzunterrichts angehängt. Das lässt mich daran zweifeln, ob die Bundesländer wirklich imstande sind, ihr gegebenes Versprechen, am Präsenzunterricht festzuhalten, durch geeignete bundeseinheitliche Maßnahmen abzusichern.

Volmer: Heute schalten sich die Kultusministerinnen und Kultusminister zu einer Art Omikron-Krisenkonferenz zusammen. Auf welche Beschlüsse hoffen Sie?

Meidinger: Ich glaube, dass es richtig ist und war, mit vollständigem Präsenzunterricht nach den Ferien zu starten. Derzeit ist noch nicht absehbar, wie stark die Schulen von der Omikron-Welle betroffen sein werden. Was wir aber brauchen, ist eine Strategie, ist ein Notfallplan, mit welchen zusätzlichen Maßnahmen wir an den Schulen reagieren müssen, wenn sich dort die Infektionszahlen explosiv nach oben entwickeln. Jetzt einfach zu sagen, es ist alles prima, wir haben die Lage im Griff, die getroffenen Maßnahmen reichen aus, wird nicht ausreichen. Es gibt ja schon Bundesländer, die sinnvolle Konzepte dafür haben.

Volmer: Welche?

Meidinger: Nehmen wir mal Mecklenburg-Vorpommern mit seinem Dreiphasenplan, der bei einem sich rapide verschlimmernden Infektionsgeschehen den Schulen zusätzliche Gesundheitsschutzmaßnahmen bis hin zur Wiederherstellung des Mindestabstands und zum Wechselunterricht ermöglicht. In solchen Phasen wie jetzt, in denen wir noch nicht wissen, wie die pandemische Entwicklung genau verlaufen wird, ist zweierlei wichtig: Erstens brauchen wir einen Orientierungsrahmen, der abhängig vom Infektionsgeschehen das notwendige Instrumentarium an Handlungsoptionen beschreibt und bereitstellt, und zweitens brauchen die Schulen einen großen eigenen Handlungsspielraum bei der Umsetzung, weil die Gegebenheiten vor Ort eben sehr unterschiedlich sein können, egal ob es jetzt die Zahl der Infektions- und Quarantänefälle angeht oder die Personalversorgung, die Raumsituation, die digitale Ausstattung oder auch die Impfquote und die Bereitstellung von Raumluftfilteranlagen.

Volmer: Und mit welchen Beschlüssen rechnen Sie?

Meidinger: Ich lasse mich immer gerne positiv überraschen, aber ich fürchte, dass wir nach der KMK-Sitzung wieder nicht schlauer sein werden als zuvor. Man wird zum hundertsten Male sagen, dass Präsenzunterricht ganz wichtig ist, man wird sich aber wohl wieder nicht auf einen gemeinsamen Notfall-Maßnahmenplan einigen und damit den Versuch unternehmen, endlich der Pandemie nicht mehr hinterherzulaufen. Es ist überhaupt die Frage, was Beschlüsse der KMK wert sind, wenn sie einerseits meist nur einen Minimalkonsens darstellen und andererseits klar ist, dass die eigentlichen Entscheidungen in der Runde der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit dem Bund fallen.

Volmer: Sie haben Ende des Jahres eine „eng begrenzte Distanzunterrichtsphase nach den Ferien“ vorgeschlagen. Geht es Ihnen um den Schutz der Lehrkräfte oder der Schülerinnen und Schüler?

Meidinger: Der Deutsche Lehrerverband hat nie konkret eine Distanzunterrichtsphase nach den Weihnachtsferien gefordert. Wir haben sogar ausdrücklich die entsprechende Ankündigung Thüringens als voreilig kritisiert. Das wurde leider in vielen Medien unzulässig verkürzt dargestellt. Was allerdings richtig ist: Wir haben davor gewarnt, Wechsel- oder Distanzunterricht angesichts der neuen Bedrohung durch die hochansteckende Omikron-Variante als Notfallmaßnahme völlig auszuschließen. Wenn ich es richtig sehe, tut das aber auch keine einzige Landesregierung, ja nicht einmal die Bundesbildungsministerin der FDP und übrigens auch nicht der Präsident des Kinderschutzbundes. Ich habe lediglich gesagt, dass für den Fall eines generellen gesamtgesellschaftlichen Lockdowns es wohl wenig sinnvoll wäre, die Schulen dabei generell auszunehmen und dass mir in der Abwägung ein Runterbringen der Infektionen mit einem kurzen harten Lockdown lieber wäre, als das ganze restliche Schuljahr weiter mit massiven Einschränkungen durch hohe Infektionszahlen kämpfen zu müssen. Es kann also notwendig sein, gerade im Interesse eines kontinuierlichen dauerhaften Präsenzunterrichts auch einmal eine kurze Distanzlernphase einzuschieben. Das ist aber derzeit eine theoretische Frage, weil ein gesamtgesellschaftlicher Lockdown ja in der aktuellen politischen Diskussion kein Thema ist.

Volmer: Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) hat vor Schulschließungen gewarnt und das mit einem Vorwurf unter anderem an Sie verbunden: „Wenn Vertreter von Lehrerverbänden bei steigender Inzidenz dann immer sofort nach Schulschließungen rufen, dann ist das im Grunde eine Bankrotterklärung des Schulsystems in Deutschland.“

Meidinger: Es ist das gute Recht und wahrscheinlich auch die Aufgabe eines solchen Verbandes, für die Interessen von Kindern einzutreten. Ich halte es aber für falsch und unanständig, wenn Lehrerverbänden beziehungsweise Lehrkräften generell unterstellt wird, sich nur um die eigenen Interessen und nicht um die Belange der Kinder und Jugendlichen zu sorgen. Für die langandauernden Schulschließungen ist die Politik verantwortlich, nicht Lehrerverbände. Der Deutsche Lehrerverband war es übrigens, der das Modell des Wechselunterrichts entwickelt hat, um nach der ersten Welle endlich wieder die Kinder an die Schulen zu holen. Umgekehrt muss man dem BVKJ den Vorwurf machen, dass er wirksame Gesundheitsschutzmaßnahmen an Schulen wie die Maskenpflicht lange Zeit abgelehnt hat, also Maßnahmen, die den Unterrichtsbetrieb absichern sollten. Noch im Oktober hat der Sprecher dieses Verbandes kritisiert, dass wir Kinder an Schulen mit Testen und Masken quälen und sich gegen niedrigschwellige Impfaktionen an Schulen ausgesprochen. Ich verstehe, dass dieser Verband für offene Schulen eintritt, aber nicht, dass er sich gegen alle Maßnahmen stellt, die durch einen hohen Gesundheitsschutz an Schulen deren Öffnung sicherstellen sollen. Im Januar 2021 hat der Deutsche Lehrerverband übrigens gemeinsam mit der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ), dem Dachverband, dem auch der BVKJ angehört, einen gemeinsamen Appell an die Politik gerichtet, einen Hygienestufenplan an Schulen umzusetzen, der offene Schulen sichert, notfalls auch mit Wechselunterricht. Schade, dass sich jetzt der BVKJ davon entfernt. Jugendärzte und Lehrkräfte, die in ihrer großen Mehrheit ihren Beruf deshalb ergriffen haben, weil sie Kinder lieben, sollten in einer Pandemie gemeinsam agieren und nicht dem jeweils anderen Kinderfeindlichkeit unterstellen.

Volmer: Generelle Schulschließungen zur Verhinderung der Corona-Verbreitung sind seit Dezember nicht mehr zulässig. War es aus Ihrer Sicht ein Fehler der Ampel, den Ländern dieses Instrument zu nehmen?

Meidinger: Es war zumindest verwunderlich, dass in dem Moment die pandemische Notlage für beendet erklärt wurde, als die bislang größte und heftigste Infektionswelle durch Deutschland rollte und die nächste Herausforderung, Omikron, schon vor der Tür stand. Ob es falsch war, dass den Ländern von der Ampelkoalition diese Letztmaßnahme genommen wurde, muss sich noch herausstellen. Es hat sich bereits im Dezember in Ländern wie Thüringen und Sachsen gezeigt, dass das Fehlen einer solchen Regelung Schulschließungen nicht verhindern kann, wenn der Kontrollverlust zu groß ist. Letztendlich wird man angesichts des beschränkten Instrumentariums der Länder nicht umhinkommen, den Einzelschulen im Bedarfsfall mehr Entscheidungsbefugnis einzuräumen.

Volmer: Viele Eltern haben Angst vor einer Durchseuchung ihrer Kinder, viele andere lehnen wie die KMK erneute Schulschließungen kategorisch ab.

 

Meidinger: Das erleben wir auch als Lehrerverband: Die Meinungen, wie man mit der Pandemie umgehen soll, driften bei allen Beteiligten – Lehrkräften, Eltern und Schülern – oft sehr weit auseinander. Wir bekommen Zuschriften von Eltern, die überhaupt nicht mehr einsehen, dass eine Durchseuchung der Schulen besorgniserregend sein soll, und welche von Eltern, die sich sehr große Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder oder auch von deren Kontaktpersonen in der Familie machen. Ich glaube, der Zeitpunkt für einen Freedom Day an den Schulen wird noch etwas auf sich warten lassen.

Mit Heinz-Peter Meidinger sprach Hubertus Volmer.

Quelle: ntv.de, https://www.n-tv.de/politik/Die-Laender-laufen-Corona-immer-nur-hinterher-article23037580.html